Wie begrüßt man einen Kaiser?

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Ein Gerücht besagte, daß Seine Majestät Kaiser Wilhelm II. auf dem Weg zu einer Jagdhütte im Sauerland unser Dorf passieren würde. Auch die Zeitung benutzte das Tätigkeitswort „passieren", was wohl soviel bedeuten sollte wie vorbeigehen, hindurchfahren oder hereinschauen. Sicher würde Majestät nicht geruhen wollen, in einem unbedeutenden Dorf wie Lindlar Urlaub zu machen oder so was.
Seit Tagen versetzten gewisse Vorbereitungen das Dorf in einen Zustand erregter Spannung. Der Bürgermeister übte Geist und Stimme für eine Ansprache. Selbstverständlich mußte der Kaiser, der ja im Krieg Oberster Befehlshaber und Siegreichster Schlachtenlenker war, gebührend begrüßt werden — aber wie begrüßt man einen Kaiser?
Der Gemischte Kirchenchor probte „Heil Dir im Siegerkranz", und Irlenbuschs Maria, die für das fehlerfreie Aufsagen von Gedichten berühmt war, machte sich daran, eine Hymne auswendig zu lernen. Die Hymne begann mit den Versen: „Mächtig wie Sturmgebraus sehallt es von Haus zu Haus; Heil Wilhelm Dir!" und so weiter. In der Schule lernten die Knaben den Diener und die Mädchen den Hofknicks für den Fall, daß Seine Majestät belieben würden, die Kinder anzusprechen.
Am Vorabend des hohen Besuchs wurde die ungepflasterte Dorfstraße von Roßäpfeln und Kuhfladen gesäubert, die Hühner gehörten eingesperrt, die Türklinken wurden geputzt, und die alte Frau Kemmerling stellte ein Herz-Jesu-Bild ins Fenster, wogegen der Pfarrer sofort einschritt, bevor weitere Herz-Jesu- Bilder und vielleicht sogar die ein bißchen angeschlagene Gipsstatue des heiligen Josef in den Fenstern auftauchten. „Seine Majestät der Kaiser ist Lutheraner", belehrte der Pfarrer die verdutzten Weiblein, „der mag so was nicht".
Wahr ist, daß niemand im Dorf jemals das Schloß in Berlin oder den Kaiser bei einer seiner prächtigen Paraden oder gar die Kaiserin Auguste Viktoria im Lazarett beim Verteilen von Liebesgaben gesehen hatte.
Man schrieb den 16.Oktober 1913. Die Kinder trugen, wie es damals an Sonn-und Feiertagen üblich war, einen Kieler Anzug, die lächerliche Verkleinerung einer Matrosenuniform. Auf der Mütze, die hinten bebändert war, stand vor der Stirn in Großbuchstaben das Wort „iIltis". Die „iIltis" war, wie ich heite weiß, ein Unterseeboot, das dann irgendwann auch nicht wieder aufgetaucht ist.
Die Mutter stellte ihren kleinen Matrosen auf ein Mäuerchen und sagte: „Paß gut auf, gleich kommt Lehmann!" Seine Majestät wurde im Dorf Lehmann genannt, und der Grund war der, daß Wilhelm sich als junger Mann bei einem Ausflug an den Rhein in einem Hotel als Lehmann eingetragen hatte.
Der kleine Matrose stand mehrere Stunden auf dem Mäuerchen und schaute zu, wie ein leichter Wind buntes Herbstlaub auf der Straße verwehte. Die Mutter brachte ein Stück Brot, das aus Kleie und Rübenschnitzeln bestand, und ein Glas Ziegenmilch. Sie stammte von der Ziege im Stall. Auguste hieß sie.
Hurra für den Kaisen Wilhelm II. wurde vor 79 Jahren in Wipperfürth (Foto) und Lindlar begeister gefeiert. Repro: Antweiler
An die Häuser gelehnt warteten einige alte Männer, Veteranen, die ihre Orden angelegt hatten, und eine Schar neugieriger Frauen. Irlenbuschs Maria sagte mit geschlossenen Augen die Kaiserhymne auf, in der auch die Worte „Durch Not und Tod zum Sieg" vorkamen. Fräulein Habernickel, die den Kirchenchor leitete, fragte den Text zu „Heil Dir im Siegeskranz” ab, und bisweilen tippte sie mit der Stimmgabel an das Mäuerchen, auf dem der Matrose stand, und summte „Lalalala”.
Und dann kam der Kaiser. Der kleine Seemann sah drei offene Kraftwagen, in denen hohe Offiziere und Herren in Pelzmänteln saßen, und im mittleren Wagen erkannte das Volk den Kaiser.
Majestät trug den grünen Rock des Försters, ein Fernglas auf der Brust und eine Auerhahnfeder am Hut, und außer der Tatsache, daß er der Kaiser war, im fernen Berlin mit Majestät angesprochen, im Rheinland zu Lehmann abgewertet, war kein Hauch einer Ausstrahlung zu spüren. Keinem der Zuschauer verging das Atmen. Viele erinnern sich an eine dicke Schutzbrille vor den Augen des Kaisers und an eine herrische Geste, die wohl bedeuten sollte: Weiterfahren, kein Aufenthalt.

Kein Trommelwirbel, kein Trompetenschall

Die Kolonne brauste durchs Dorf, ohne Trommelwirbel und Trompetenschall, vorbei am Bürgermeister,vorbei am Kirchenchor, der nicht mehr gemischt war, vorbei an den weißgekleideten Jungfrauen und an Irlenbuschs Maria. Das Herz-Jesu- Bild, das dann doch bei der alten Frau Kemmerling im Fenster stand, wurde ebenfalls nicht gewürdigt. Auf der Dorfstraße mischte sich der Duft von Pferd und Kuh mit dem Geruch von Dieselkraftstoff und Generalstab. Die Veteranen, zwei Einarmige, ein Beinamputierter und einer, der verschüttet gewesen war, lallten immer noch Hurra, als der Kaiser längst entschwunden war.
Da hatte der kleine Lindlar Matrose nun die Sternstunde seines Lebens, die er nie vergessen sollte, den großen Knall, den Zusammenprall zweier Welten. Er erblickte den Kaiser sozusagenvon Angesicht zu Angesicht. Ihn, den obersten Kriegsherren im grünen Tuch des Jägers. Und er, ein Knabe im modischen Behang eines Marinewinzlings, der für die Seeschlacht gegen England bereits verplant war.
Der Kaiser befand sich mit seinem Gefolge auf dem Weg zur Saujagd im Sauerland. Sein hochgerüstetes Reich schlitterte zu diesem Zeitpunkt noch unmerklich aber schon unaufhaltsam in die Katastrophe des Ersten Weltkrieges, in dem Zehntausend den Tod fanden. Und seine Majestät oblag den Freuden der Jagd auf Wildschweine.
Der Autor stammt aus Lindlar. Seine journalistische Ausbildung erwarb er als Volontör des ,,Kölner
Lokalanzeigers” in den Jahren 1932/33. Weitere Stationen waren Bergisch Gladbach, Hannover und Berlin. Nach dem Kriege arbeitete Bernhard Schulz in Osnabrück, wo er heute lebt.
Nach seiner Erinnerungen durchquerte Kaiser Wilhelm II. Lindlar nicht 1913, sondern 1917. Dies halten Heimathistoriker wie Dr.Josef Gronewald – ein alter Bekannter Schulz` -- und Josef Krämer für unwahrscheinlich. Alle Veröffentlichungen nennen das Datum 16.Oktober 1913 – also heute vor 79 Jahren. An diesem Tag passierte der letzte deutsche Kaiser auch Engelskirchen und Wipperfürth.

 

 

Bergische Landeszeitung
23.Sep.1992

Sehr geehrter Herr Schulz,

für Ihre Erzählung "Als der Kaiser kam" sage ich Ihnen im Namen unserer Redaktion ganz herzlichen Dank. Wir haben die Geschichte mit Freude gelesen und wird sie am 14. Oktober, also zur 75jährigen Wiederkehr des denkwürdigen Kaiserbesuchs in Lindlar, veröffentlichen.

Unser Honorar geht Ihnen auf das angegebene Konto zu.

Sollten Sie – aus Ihrer offenbar profunden Kenntnis Alt – Lindlarer Geschehnisse noch ähnliche Geschichten anbieten können, würde ich mich sehr freuen. Ich bin sicher, dass solche Erzählungen in der Lokalzeitung gern gelesen werde. Es wäre schön, noch einmal von Ihnen zu hören. Einstweilen verbleibe ich

Mit freundlichem Gruß
Oliver Klöck