Das gute Leben 1965
Er sieht aus wie jemand, der morgens im Milchladen den Nachbarn erzählt, dass er zufrieden sei
und dass er drei Mark beim Skatspielen gewonnen habe. Ich sehe solche Männer nicht jeden Tag. Und deshalb
beschäftige ich mich mit Ihnen. Ich betrachte sie unauffällig, mache mir Gedanken über sie, beneide sie um ihre
Ruhe und um den stillen Glanz in ihren Augen. Um die drei Mark geht es mir nicht, ich bin kein
Räuber. Ich sehe auch sofort, dass sie vom Lande kommen. Ja, ich weiß, dass sie irgendwo da
draußen wohnen, wo die Autos aufgehört haben zu lärmen, sagen wir mal, in einem Häuschen, das von Apfelbäumen und
Stachelbeersträuchern umgeben ist, und aus dem Fenster im Dachzimmer, wo sie ihre alten Schuhe und den gusseisernen
Ständer für den Christbaum aufbewahren, können sie den Wald sehen. Im Wald gehen sie nach dem Mittagessen
spazieren.
„Fräulein“, ruft er, „zahlen!“ Rechnen wir mal zusammen: zwei Tassen Kaffee, drei Weinbrand, ein Brot mit Käse,
eine schwarze Zigarre. „Das ist für Sie“, sagt er, indem er dem Fräulein das Geld zurückgibt. Er kann es sich
leisten, großzügig zu sein. Er gewinnt beim Skatspielen. Drei Mark und mehr. Du bist fünfundsechzig Jahre alt,
denke
ich.
Er geht. Verlässt seinen Tisch. Grüßt das Fräulein hinter dem Kuchenbüfett. Dann fällt ihm ein, dass er ein Paket
neben seinem Stuhl vergessen hat. Er kehrt zurück und macht eine Bemerkung über den Umstand, dass man im Alter
vergesslich
wird.
„Sie übertreiben“, sage ich, „Sie wollen doch nicht behaupten, dass Sie alt sind“, und damit habe ich nun eine
Schleuse geöffnet.
„Achtzig“, sagt er „ich bin gestern achtzig geworden, da lässt man gelegentlich schon etwas stehen, dies zum
Beispiel: Bücher. Ich habe sie für meine Enkelkinder gekauft. Meine Tochter lebt hier in der Stadt. Der
Schwiegersohn ist Kraftfahrer. Trinkt nie einen Tropfen Alkohol, jedenfalls nicht im Dienst. Strebsame Leute.
Gestern haben sie eine Waschmaschine angeschafft. Darf ich mich setzen? Ich werde nämlich erst um drei Uhr
erwartet. Ich wohne auf dem Lande, und ich sage immer: Großstadt ist gut und schön, aber in der Großstadt – wo
finde ich da
Ruhe?“
Er setzt sich hin, sitzt jetzt an meinem Tisch, und das Fräulein bringt seinen Mantel und Hut zurück in die
Garderobe. Pfeffer-und-Salz-Anzug, weißes Ausgehhemd, altmodisch gebundene Krawatte, zwei Ringe am Finger, also
Witwer. Fährt in die Großstadt, um Einsamkeit loszuwerden, um für die Enkelkinder Bücher einzukaufen, um mit dem
Schwiegersohn über Transportprobleme zu reden: Straße und Schiene und so weiter. Der Schwiegersohn fährt einen
Fernlastzug. Täglich Berlin oder Südbaden oder Rotterdam. Manchmal wechselt der Chef die Tour. Er selbst, der
Achtzigjährige, der Witwer, der Pfeffer-und-Salz-Mann, ist Eisenbahner gewesen. Er war Vorsteher eines kleinen
ländlichen Bahnhofs. Schlimm war der Krieg; da hatte er es mit Bomben und Tieffliegern und Dieben zu tun. Sonst ist
Bahnhofsvorsteher nicht
schlecht.
Thema Krieg; da gibt es eine Menge zu sagen. „Die jungen Leute wollen keinen Krieg“, behauptet er, „mit denen
können sie das nicht machen, was sie mit uns gemacht haben. Soll ich Ihnen mal was erzählen? Mein Vater war im
ersten Weltkrieg in Russland. Dort sind ihm die Beine abgefroren, im Lazarett haben sie ihm die Füße amputiert,
erst bis zum Knie, dann über dem Knie, dann immer höher, und zuletzt lag er in einem Karren, den sie speziell für
ihn gebaut hatten, und er konnte nichts mehr. Hatte mein Vater den Krieg angefangen, war er derjenige, dem das gute
Leben bis obenhin stand? Hatte meine Mutter ihm zugeredet, mit dem Gewehr auf alles loszugehen? Nein, sage ich.
Aber meine Jugend und meine Jungmännerjahre habe ich damit verbracht, meinen Vater in dem Karren, den sie speziell
für ihn gebaut hatten, vor mir herzuschieben. Er wollte immer so gern in den Wald, und der Wald war auch nicht weit
entfernt, und er konnte stundenlang dort aushalten und die Tiere beobachten und auf den Wind lauschen und die Bäume
anschauen. Ihm machte auch der Regen nichts aus, und er sagte immer, Junge, sagte er, das wird Dir der liebe Gott
hoch anrechnen, dass Du bei Deinem Vater bleibst und nicht mit den Mädchen gehst und niemals ungeduldig
bist.“
„Und“, fragte ich, „hat er es Ihnen angerechnet, was meinen Sie?“ „Ja, ich weiß es“, antwortete er, „ich bin gesund
und zufrieden. An mir verdienen die Ärzte und Apotheker keinen Pfennig, und solange ich in den Wald gehen kann, bin
ich glücklich. Ich fürchte mich nicht vor dem Sterben, wenn es das ist, was sie
meinen.“
Fühlt sich gesund, ist glücklich, hockt nicht in Wartezimmern herum, isst und trinkt und fürchtet sich nicht vor
dem Sterben. Dieser alte Mann, dieser Bahnhofsvorsteher in Ruhe, dieser Pfeffer-und-Salz-Opa, und das erfährt man
an einem beliebigen Tag in einem beliebigen Café mit beliebigen Menschen – und was in dieser Welt noch beliebig
ist. Ende.
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