Die Lust zu schlafen
Der Schlaf ist der wahre Wohltäter des Menschengeschlechts. Die Leute sagen: „Wer schläft, der
sündigt nicht" Das ist nicht zu leugnen. Wer daliegt und schnarcht, ist selbstverständlich nicht unterwegs, um ein
Schaufenster mit Spirituosen einzuschlagen oder Falschgeld herzustellen, von schlimmeren Dingen ganz
abgesehen.
Der Schläfer ist niemandem im Wege. Er liegt bis zur Nasenspitze in Hühnerfedern gebettet und träumt von
Totogewinnen und Kalbsnierenbraten, und die Ereignisse der Welt nehmen ohne ihn ihren verheerenden Lauf.
Menschen mit solider Weltanschauung und gesundem Verdauungsvermögen schlafen gern. Sie wissen genau, dass der
Schlaf nicht der Vater aller Dinge ist Wer schläft, steht nicht nur der Sünde fern, sondern auch der Sorge.
Jedenfalls setzt die zermürbende Tätigkeit der Sorge nicht eher wieder ein, bis Seine Majestät, der Mensch, wacht
Ein Mann mit Weltanschauung ist zum Beispiel jener Knecht aus Wellingholzhausen, der sich zu seinem Geburtstag
einen Wecker wünschte. Jeder wird zugeben, dass von einer Weckeruhr, diesem rasselnden Chronometer des modernen
Großstadtlebens, in einer Knechtskammer in Wellingholzhausen nicht unbedingt das Heil der Welt abhängt Wenn es
Zeit ist aufzustehen, klirren die Kühe mit den Ketten, die Gäule donnern mit den Hufen gegen die Bohlen und der
Bauernspross taucht seine vom Schlaf gerötete Wange in die Waschschüssel. Fertig.
Gefragt, wieso und weshalb er ausgerechnet einen Wecker wünsche, er habe sich doch bisher nie um das Wecken zu
kümmern brauchen, antwortete der Knecht ungefähr folgendes: „Ich finde das Einschlafen so schön. Ich lasse mich die
ganze Nacht hindurch in Abständen von je einer Stunde wecken. Ich genieße dann das wohlige Gefühl, nicht aufstehen
zu müssen und weiterschlafen zu dürfen."
Dieser Knecht ist in der Tat ein Lebenskünstler, ein Meister des Schlafs, ein Virtuose der Kunst, untätig zu sein.
Jeden anderen Menschen packt beim Erdröhnen des Weckers das kalte Grauen. Hier, in der Schlafkammer eines simplen
Philosophen in Wellingholzhausen, verwandelt sich das Weckergedröhn in himmlischen Sphärenklang, das Grauen
steigert sich zur Lust, und der wohlige Seufzer eines Glücklichen vereinigt sich mit dem satten geschnauf der
Kühe.
Der Knecht dreht sich zur Seite, stopft sich das Federbett in den Rücken und schläft wieder ein. Nicht so der
Atomforscher. Er schüttelt ärgerlich das Haupt Er missbilligt die Handlungsweise dieses Bauernburschen. Was tut
dieser Mensch schließlich für den Fortschritt? Nichts.
Natürlich, er tut für den Fortschritt nichts, er denkt nicht daran, der Atomforschung behilflich zu sein. Aber ist
der Fortschritt nicht ohnehin ein Rückschritt? Man braucht doch nur daran zu denken, dass irgendwann einmal ein
Verrückter mit dem Ellenbogen an den Knopf gerät, der den Erdball samt Wellingholzhausen, Weckeruhr und Knecht ins
All zerstäubt.
Von Bernhard Schulz
Die Welt 26.Sep.1961
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