Ein Dorf im Hümmling
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Ich weiß nicht, ob das Dorfpflaster in Lorup heute noch genau so bucklig ist wie damals und ob man abends immer
noch mit der Laterne den Weg um die Schafteiche suchen muss, wenn man mit den Nachbarn über das Wetter sprechen
will. Ich begreife aber wohl, dass inzwischen fast zwanzig Jahre vergangen sind und dass die Bauern in Lorup, in
Sögel und in Esterwegen am Weltgeschehen ebenso teilhaben wie die Hauern in Bersenbrück, über deren neue
Ziegeldächer sich Antennen spannen.
Damals wusste das übrige Deutschland nichts vom Hümmling, und der Hümmling seinerseits tat sich
nicht besonders wichtig mit der Weisheit, dass auch die Bayern ein deutsches Volk sein mochten. Sie hatten mit
sich selbst genug zu tun, mit dem Moor und den Schafen, und ihr Buchweizcnjanhinnerk war ihnen so lieb "wie den
anderen die Knödel und das Geselchte. Wer im verräucherten Abteil vierter Klasse mit der Kleinbahn nach
Wertegekommen war, des Sommers durch brandgeschwärzte Flächen Heide und an Wintertagen durch eine trostlose
verregnete Einöde, von Krähen überschrieen, und wer dann nach einem Schnaps in der Bahnhofswirtschaft in Werl te
den Weg durchs Moor unter die Füße nahm, den überkam eine Ahnung von Weltenferne und Abgeschiedenheit. Freilich
gab es in Werlte Unternehmer, die erbötig waren, den Stadtgast in der Kutsche nach Lorup zu schaukeln, und wer
sich darauf verstand, kroch vielleicht unter die Regenplane eines Bauernwagens, der junge Ferkel zur Kleinbahn
gebracht hatte. Heide und Moor, der Himmel mit seinem vom Nordseewind zerwehten Gewölk, naßsilberne Birken,
Schafkaten mit moosgrünen Hauben, eine Heidschnuckenherde, am Horizont, der Schrei einer Elster, die schweren
Kufe der Pferde und ein schweigsamer Genoss — das war alles. Nichts für einen, Mann, der gerne auf Barschemeln
sitzt.
Wer nach Lorup kam, musste sein Herz für kleine Dinge aufgetan halten, für ein Storchennest zum
Beispiel, für altmodische Blumen, für handgeschnitzte Tellerschränke, für einen unbekannten Bibelspruch im
Gebälk oder für den sehnarrenden Gruß der Nachtschwalbe. Er tat am besten daran, schafwollene Socken anzuziehen
und einen Lodenrock zu tragen, der sich am Halse schließen ließ.
In großstädtischer Kleidung hätte der „Butenlanders"p geringe Aussicht gehabt, zu Beschüten und
Tee mit Kandis eingeladen zu werden. Du lieber Himmel, was wollte er überhaupt in Lorup? Er wollte schweigsam
sein wie jene, die in ihren Manchester;hosen und Flanellhemden in der Diele um den kniehohen Tisch saßen, jedoch
auf geflochtenen Stühlen, deren Rückenlehnen sie um Haupteslänge überragten: Da saß er denn und hielt das Maul
und redete nicht von Dingen, von denen er nichts verstand: In Lorup redete nur der mit, der selber mal bis zum
Bauchnabel im Moor gesteckt hatte, und der mehr als einen Wildererzahn an der Uhrkette nachweisen konnte. Wer
nichts vom Torfstechen und nichts vom Buchweizensäen verstand und wem es nicht ein Vergnügen war, Schafslämmern
ans Licht zu helfen, der kam aus einer anderen Welt, die mit der Welt der Loruper Bauern nicht einmal mehr den
Sinn gemein hatte. Den Sinn nämlich, verstanden zu werden.
Diese Menschen verachteten maßlos, Kinoapparaturen zum Beispiel, Schnellzuglokomotiven und
Reiherfedern an Damenhüten. Daran taten sie recht. Kinofreuden sind des Teufels, Reiherfedern entbehren jeder
Moral, und mit nichts wird man so schnell an die Front befördert wie mit tausendpferdigen Lokomotiven. Wir sehen
ja heute, wohin wir mit diesen Errungenschaften gekommen sind. Damals trugen die Bauernburschen im Hümmling
Manchester hosen bis zur halben Wade, die sahen am Bettpfosten wie Ofcnknie aus, die im Knick durchgerostet
sind. Die Köpfe waren geschoren, weil es nichts ausmachte, schön oder hässlich zu
sein. Außerdem spart man auf diese Art den Kamm. Die Mädchen trugen schafwollene Röcke und niedliche Haarknoten
über den blauäugigen Puppengesichtern. Das Essen war nahrhaft und reichlich. Den Wohlstand eines Bauern in
dieser Beziehung erwies die Zahl, der knorpeligen Schaf schwänze, die im Rauchfang über der offenen Herdstelle
eine Art Bilanz des verzehrten Fleisches übrig geblieben waren. Irgendein Jan, der so reich war, dass er Zeit
seines Lebens nicht einmal .alle Birken und Moortümpel zu Gesicht bekommen hatte, die ihm eigen waren, brachte
es meistens bis zu siebzig Schwänzen im Jahr. Heidschnucken sind der Reichtum dieser Bauern. Die baufälligen
Schafkaten stellen den Wesentlichsten Teil der Romantik des Hümmlings dar, wie ja auch der Hirte, dieser
Sokrates mit dem Strickstrumpf, die eigentlichste Figur dieser Landschaft ist.
Einmal war ich in der Fastenzeit in Lorup. Die Wege waren aufgeweicht, die Luft schmeckte nach
Meerwasser, und auf den Moosdächern der Schafkaten sprossten Marienblümchen. Ich habe nicht vergessen, dass ich
abends mit den Schulkindern zur Andacht ging. Die Kinder kamen weither übers Moor. Das dunkle Kirchenschiff, in
dessen Holzwände die Seufzer der frommen Seelen dieser Bauern gefahren waren, so ehrwürdig standen sie da, tönte
wider vom Geklopf der vielen kleinen Holzschuhe. Als die Kerzen angezündet waren und der Bass des Loruper
Pastors, der es keineswegs gering erachtete, in Holzschuhen Gott die Ehre zu erweisen, ertönte, verebbte dies
hölzerne Gebet wie süßes Gestammel vor dem Schlafengehen.
Auf dem Heimweg flammte der Mond aus Tümpeln und Teichen.
Aus: Neues Tageblatt Osnabrück 15. März 1948
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