Luft der Freiheit    

Die Menschen stiegen aus Luftschutzbunkern, Stacheldrahtgehegen und Gefängnissen nach oben. Sie warfen feldgraue, olivfarbene und braune Uniformen ab und atmeten die Luft der Freiheit, die nach Brot schmeckte, das frisch aus dem Ofen gezogen wird. In ihrem Innern hatte sich Dampf angesammelt und dieser Dampf wollte raus. Der Dampf zischte, aber er zischte nicht wie Dampf zischt in einem Stahlwerk oder in einer Schnapsbrennerei. Das Zischen hörte sich eher an wie eine Kette von Explosionen in Jupheidi und Trallala und jedes Trallala bedeutete: Ich lebe noch. 

 


Kinderbett 

Die kleine Lokomotive mit den Kipploren hat einen Teil der zerstörten Kühlschränke, Öfen, Herde und Klaviere aus der Stadt geschafft. Aber es gibt immer noch Ruinen, in deren oberen Stockwerken ein Kinderbettchen hängen geblieben ist. Wir haben uns an den Anblick von Ruinen gewöhnt. Die Ruinen erschrecken uns nicht mehr. Schrecklich ist das Kinderbettchen. Erst das Kinderbettchen offenbart uns den Verlust, den wir erlitten haben. Gestern noch hat in diesem Bettchen ein kleines Mädchen geschlafen, mit einer Puppe im Arm. 

 

 

Plakat  

Auf dem Plakat steht: „Hilf ihm, als wäre er der Deine.“ Sein Kopf ist kahl geschoren. Die Haut ist grau und durchsichtig. Nase und Ohren sind erfroren. Dafür kann er nichts. Er lag bei 50 Grad unter Null bei Slawinka verwundet im Schnee. Ein Intellektueller? Vielleicht ein Dorfschullehrer oder ein Doktor der Philosophie? Die Philosophie ist nicht einmal ein Tausendstel von dem Wert, was ein sauberes Hemd bedeutet. Aber die Propaganda hat ihn als Typ erkannt. Die Propaganda lieh sich seinen geschorenen Schädel für ein Plakat aus. Sie vergab seine lichtlosen Augen, diese Totenschädellöcher an die Mauern, die stehen geblieben waren. Sie vermachte seinen schmalen bitteren Mund den Wartezimmerwänden und Büroeingängen. Und dies alles um der Hoffnung willen. 

 

 

Barackenmensch 

Der Barackenmensch ist der Mensch unserer Tage. Er ist hervorgegangen aus einem Bombardement. Er ist das Geschöpf einer Pressluftmine. Er ist das Opfer eines Flächenwurfs auf seine Kochstelle. Als er zu seiner neuen Daseinsform erwachte, war er arm und unbekleidet wie Adam. Die Haut auf der Brust war angeritzt von Granatsplittern, die Augenbrauen waren versengt von Brandbomben und in der Hand hielt er ein Kochgeschirr. Das Kochgeschirr erleichterte ihm den Beginn einer neuen Lebensepoche. Diese Epoche kennt weder fließendes Wasser in der Küche noch eine Glühbirne an der Decke. Aber sie kennt den Schlaf auf dem Fußboden und das entzündete Fleisch, das vom Biss der Wanze herrührt. Die Wanzen sind im Verein mit Ratten und Läusen die wahren Sieger. 


Übersicht 

Trotz der Überflutung mit Ekrasit und Phosphor ist einiges erhalten geblieben. Der Dom, das Rathaus, die Marienkirche, das Heger Tor, der Bocksturm, der Pernickelturm, die Vitischanze, ein Dutzend barocker Giebel und vertrautes Fachwerk. Nichts ist spurlos verschwunden. Von allem ist noch ein Zeichen da, ein Umriss, eine Ahnung. Den Heiligen in den Außennischen der Kirchen haben Bombensplitter das Gesicht halbiert, als solle ihnen das Weinen erspart bleiben. Anderswo lächeln Engel über den Untergang der Welt. Heilige blicken zum Himmel empor. In Kaiserbärten nisten Sperlinge. Ein Wasserspeier bleckt sein Drachenmaul. Sogar der Kopf des Löwenpudels fand sich im Geröll wieder. 

 

Tauschzentrale 

In der Tauschzentrale wird gesucht und angeboten. In der Hauptsache geht es um Schuhe und Kleidung. Auch Löffel sind gefragt, denn zur Suppe gehört ein Löffel. Die sozialen Schichten, denen die Kundschaft entstammt, sind an den zum Tausch bereitgelegten Kleidern abzulesen. Da hängt der altersgraue Hut neben der hahnigen Reithose, das Hochzeitskleid neben dem Schlosserkittel, der Trachtenanzug neben der Hose aus englischer Gefangenschaft, auf der noch PoW steht. Vor alten Kleidern wird man ehrfürchtig. Wer weiß, welch erlauchter Geist in ihnen beheimatet war. Der Geruch der aus Kellern und Bunkern zusammengetragenen Lumpen schafft eine Atmosphäre eindringlicher Zeit- und Menschennähe. 

 

Schrott 

Bei Klöckner werden die in Wäldern an Straßenrändern und in Jauchegruben abgelegten Waffen gesammelt. Alles wird von Schneidbrennern zerkleinert. Man macht Geschnetzeltes für den Hochofen. Haushoch türmt sich das Arsenal des Schreckens. Es schaudert einen beim bloßen Anblick. Wer an der Front sein Gewehr hinwarf, wurde erschossen. Aus. Hier sammeln sich zuhauf Geschütze und Granatwerfer, Bestandteile von Panzern und Trümmer von Flugzeugen, Stahlhelme und militärischer Kleinkram von der Gasmaskenbüchse bis zur Munitionskiste. Ein lenkbarer Kran schaufelt sein Maul voll mit rostigem Eisen. Was einmal der Stolz einer Armee war, was unter Trommelwirbel und Trompetenklang zur Vereidigung antrat, was von geistlichen Herren für den Einsatz im Krieg gesegnet wurde, Waffen, Waffen, Waffen, das wird hier zu Schrott erniedrigt. Der Weihrauch hat sich verzogen, haften geblieben ist der Geruch von Verwesung. 

 

Bernhard Schulz, 1948