Schicksal in großen Buchstaben (1965)
Wie war das vor zwanzig Jahren? Wie war das an jenem Tag, als ich aus der amerikanischen
Kriegsgefangenschaft in meine Vaterstadt heimkehrte? Wir waren in Front zu drei Gliedern angetreten, an die hundert
Mann, ein Haufen zerlumpter Gefangener. Unsere Wachmannschaften hatten sich entfernt. Die Lastwagen hatten
kehrtgemacht. Die Gefangenschaft war zu Ende. Die Stadt hatte einige ihrer Söhne wieder. Kameraden, was nun?
Großartige Söhne waren wir, und es sah nicht danach aus, als hätte jemand damit gerechnet, uns lebendig
wiederzusehen: feldgraues Gewimmel, Flieger in blau und Panzerfahrer in schwarz, blutjunge Arbeitsdienstler
dazwischen.
Ein Mann trat aus einer Baracke und las Namen aus einer Liste vor. Die Aufgerufenen traten einen Schritt vor. Der
Mann setzte ein Häkchen hinter den Namen. Der Mann war die Vaterstadt und das Heimatland. Er war Oberbürgermeister,
Regierungspräsident, Landesvater und Ehrenjungfrau. Er war Fahnenabordnung, Sprecher der Parteien, Haupt der
Wohlfahrtsbeamten und Haupt der Wiedergutmachungskommission. Er war alle Personen in einer Person, alle Ämter in
einem Amt, alle Würden in einer Würde. Ein dürres Männchen mit geflickter Hose und Krankenkassenbrille auf der
Nase. Das Männchen war nicht einmal darauf gekommen, sich zur Begrüßung der verlorenen Söhne eine Blume ins
Knopfloch zu stecken.
Das Männchen gab mir den Entlassungsschein. Er trug meinen Daumenabdruck und den ärztlichen Vermerk UNFIT. Ich
konnte gehen. Aber wohin gehen? He, Alter, wer lebt den noch von den Menschen, die ich verlassen habe, als ich
auszog, um zu siegen? Lebt meine Frau noch? Lebt meine Mutter noch, mein Vater, meine Schwester, mein Bruder? Lebt
die Tante noch, der Onkel, der Nachbar? Auf meinem Entlassungsschein stand MARRIED, das war nicht gelogen. In
NUMBER OF CHILDREN WHO ARE MARRIED hatte ich KEINE eintragen lassen, aber das war vielleicht doch gelogen. Ich
hatte seit einem Jahr keine Nachricht mehr erhalten.
Entlassen. Ich war entlassen. Kein Stacheldraht hinderte mich mehr. Kein Maschinengewehr war auf meinen Kopf
gerichtet. Kein Posten drohte mit dem Knüppel. Der Sieger ließ mich laufen. LET'S GO, DAMNED BLOODY NAZIBOY, auch
das in großen Buchstaben, in BLOCK LATIN CAPITALS, wie es die Vorschrift zur Ausfüllung des Formulars befahl, und
mitgegeben hatten sie mir ein Paar Socken und acht Stück Seife der Marke LUX, von der Gloria Swanson begeistert
war. LET’S GO.
Ich bin nie in meinem Leben und bei keiner noch so verdammten Gelegenheit langsamer gegangen als an diesem Tag. Ich
zog in eine zerbombte, durchlöcherte, verbrannte, verratene, entvölkerte, verarmte Stadt. Auf meinem Rücken stand
in weißen Buchstaben PoW, das hieß PRISONER OF WAR, Kriegsgefangener, ich war gezeichnet, und ich kannte niemanden,
der reich genug war, mir einen Anzug zu schenken. Meine Beute aus sechs Jahren Waffendienst, mein Anteil am Feldzug
durch Polen, Frankreich und Rußland, meine Beute, mein Verdienst, mein Lohn, mein Volksvermögen, mein
Kapitalzuwachs, meine Ersparnisse waren ein Paar olivfarbene Socken und acht Stück Seife mit dem Porträt von Gloria
Swanson. LET‘S GO.
Ich erinnere mich, daß es anfing zu regnen und grau zu werden. Ich ging immer noch langsam. Ich hatte Angst. Es war
nicht deshalb, weil ich Tote gesehen hatte, viele Tote, mit denen ich weder verwandt noch verschwägert wer. Aber
wer zählte in meiner Familie zu den Toten?
Ich blieb stehen und entfaltete den Entlassungsschein. CERTIFICATE OF DISCHARGE stand da, und ein gewisser Harry La
Bow Capt. C.M. hatte unterschrieben. Thank you, Captain. Die AMT hat meinen Ehering und die Armbanduhr genommen,
ich will's vergessen, aber sie hat mir die Socken und acht Stück Seife gelassen, um darauf das neue Leben
aufzubauen. LET'S GO.
Das neue Leben bestand zunächst aus einer Ruine. Hier hatten die Eltern gewohnt. Auf Pappe stand in der Küche
meiner Mutter zu lesen, daß die Eltern in einem Ort namens Hunteburg wohnten. So war das heute. So benachrichtigte
man einander, auf Pappe und auf Stein, hinter verbrannten Türen. Tante Mentrup ist tot, stand da.
Ich taumelte weiter. Ich spürte Hunger. Aber ich besaß weder Geld noch Lebensmittelmarken. Ich hatte nicht die
leiseste Ahnung, wie das hier weitergehen würde. Meine Frau hatte ich zuletzt in Berlin gesehen. Wir hatten dort
eine Wohnung gehabt. Wohin sollte ich fahren? In jenen Ort namens Hunteburg? Nach Berlin? Fuhren schon Züge? Durfte
ich die Stadt, die mich aufgenommen hatte, überhaupt verlassen?
Da erbarmte sich meiner der Engel der entlassenen Kriegsgefangenen und schickte mir die Tante Anna über den Weg,
und die Tante Anna sagte, daß meine Frau aus der sowjetisch besetzten Zone geflohen und in der vergangenen Nacht
wohlbehalten bei den Eltern angekommen sei. "Mit Sabinchen", fügte Tante Anna hinzu.
"Wer ist das?" fragte ich..
"Wer Sabinchen ist? Das weißt du nicht? Ach, du lieber Himmel...das ist deine Tochter!"
Ich war langsam gegangen, weil ich Angst gehabt hatte. Auch war ich der Freiheit entwöhnt. Stacheldraht und
Wachtposten hatten mich zur Vorsicht erzogen. Aber jetzt fing ich an, schnell zu gehen. Ich lief. Ich kannte ja das
Ziel. Ich wußte, daß ich angekommen war. Daß ich zuhause war. Daß es weitergehen würde. Irgendwo. Irgendwie. In
dieser Stadt.
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