Abrechnung mit meinen Rednern

Mit Taten ist es in der Welt nicht halb so gut bestellt wie mit Untaten. Die Tat wird gemeinhin durch Rede ersetzt. Bevor jemand zur Tat schreitet, schreitet er zum Redner­pult. In tiefschürfender Rede wird die Tat durch zahllose Worte unter­mauert. Erst dann läuft das Schiff vom Stapel. Erst dann braust das neue Feuerwehrauto los. Erst dann öffnet der Modesalon seine Pforte. Erst dann wird die Brücke dem Verkehr übergeben. Schiff, /Feuerwehrauto, Mode­salon und Brücke sind Taten.

Bei Untaten ist es umgekehrt. Bei Untaten werden erst sehr viel später Worte gemacht, und gewöhnlich hört dann nur der Untäter zu, der es ent­sprechend langweilig findet. Es ist das Wesen der Untat, dass sie die Rede scheut. Von Untaten vorher Aufheben zu machen, ist unklug. Ich rate ab.

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Vor kurzem lernte ich in einer klei­nen Stadt einen Bürgermeister kennen, der im Kriege General gewesen war. Jedes Mal, wenn der Bürgermeister, der im Kriege General gewesen war, eine Rede halten musste, endete es mit Schluchzen. Seine Stimme erstickte vor Rührung. Das war es wohl, was ihn den Wählern wert gemacht hatte. Sie konnten sich einen weinenden General nicht vorstellen. Deshalb sagten sie sich mit Recht, dass er kein schlechter Kerl sei. Ein General, der statt Blut Tränen ver­gießt, ist in Ordnung. Fürwahr. Der General war ein guter Bürgermeister, aber ein miserabler Redner, und das gefiel den Leuten.

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Auch mir sind schlechte Redner lie­ber als jene gewaltigen Naturen, die mit ihrer Stimme alles in Grund und Boden donnern. Bei unbegabten Red­nern kommen wir zum Essen niemals zu spät. Bei begabten Rednern müssen wir den Riemen enger schnallen. Es dauert lange, bis sie einsehen, dass es genug ist. Ihrer Rede Sinn ist Missbrauch der Geduld der anderen.

Ich glaube, dass niemand bereit ist, länger als fünfzehn Minuten zuzuhören. Nach der fünfzehnten Minute fängt jeder an, sich mit seinem Innen­leben zu beschäftigen. Deshalb lohnt es sich gar nicht, begabte Redner zu engagieren. Sie erregen Unwillen. Je­denfalls sollte man ihnen vorsichts­halber Böllerschüsse mit Zeitzünder ans Stehpult binden.

Derartige „Fasse-dich-kurz-Böller" müssten an jedem Saaleingang zu kaufen sein, damit man sie notfalls gleich zur Hand hat.

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Einmal stand ich hinter einem Rats­herrn, dem die Aufgabe zugefallen war, zum Tag des Baumes eine An­sprache zu halten. Er hielt auf dem Rücken mit beiden Händen das Manu­skript fest. Hände, Manuskript und Rücken zitterten unaufhörlich - ein bejammernswerter Anblick. Der Redner hatte Angst, und dabei ist Baum doch ein verhältnismäßig bequemes Thema. Milchpreis zum Beispiel ist viel schwieriger. Keine Pappel nimmt es einem übel, wenn man bei Eiche kurz bleibt.

Nun, als der Mann zu sprechen an­fing, setzte sich das Zittern auch in der Stimme fort. Das Manuskript war un­leserlich zerknautscht, und die Anwe­senden erfuhren nur, dass wie alljähr­lich so auch diesmal wieder der Tag des Baumes herangekommen sei. „Und in diesem Sinne", fuhr der Zitterredner fort, „wollen wir jetzt einen Baum pflanzen."

Es war eine schöne Ansprache, kurz und zutreffend, und die Tat folgte ihr auf dem Fuße; denn ein neuer Baum ist eine Tat, davon lasse ich mich nicht abbringen.

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Unvergesslich ist mir ein Mann, der seine kaum begonnene Rede mit folgenden Worten abbrach: „Meine Da­men, meine Herren! Ich bin zerstreut.. Entschuldigen Sie bitte. Ich erwarte daheim ein freudiges Ereignis“. Sprach's und drehte der Gesellschaft den Rücken.

Der Mann hatte einen Vortrag über den störenden Einfluss des Wetters auf die Herstellung irgendwelcher Fabrikate zu halten - und was tat er? Der störende Einfluss des Wetters auf die Herstellung irgendwelcher Fabrikate ist ihm plötzlich schnuppe. Er beschloss zu handeln, statt vorzutragen. Ihm ge­bührt der Lorbeer der kurzen Rede.
Sein Beispiel möge bahnbrechend wir­ken für alle Redner, die sich dem Stehpult jemals nahen.

Eine Brücke ist eine Tat. Auch ein Baum ist eine Tat. Aber ein freudiges Ereignis? Das ist die Tat der Taten... Ihm nach, ihm nach...

 

Bernhard Schulz, Neue Tagespost Osnabrück 1956