Abrechnung mit meinen Rednern
Mit Taten ist es in der Welt nicht halb so gut
bestellt wie mit Untaten. Die Tat wird gemeinhin durch Rede ersetzt. Bevor jemand zur Tat schreitet, schreitet
er zum Rednerpult. In tiefschürfender Rede wird die Tat durch zahllose Worte untermauert. Erst dann läuft das
Schiff vom Stapel. Erst dann braust das neue Feuerwehrauto los. Erst dann öffnet der Modesalon seine Pforte.
Erst dann wird die Brücke dem Verkehr übergeben. Schiff, /Feuerwehrauto, Modesalon und Brücke sind
Taten.
Bei Untaten ist es umgekehrt. Bei Untaten werden
erst sehr viel später Worte gemacht, und gewöhnlich hört dann nur der Untäter zu, der es entsprechend
langweilig findet. Es ist das Wesen der Untat, dass sie die Rede scheut. Von Untaten vorher Aufheben zu machen,
ist unklug. Ich rate ab.
*
Vor kurzem lernte ich in einer kleinen Stadt einen
Bürgermeister kennen, der im Kriege General gewesen war. Jedes Mal, wenn der Bürgermeister, der im Kriege
General gewesen war, eine Rede halten musste, endete es mit Schluchzen. Seine Stimme erstickte vor Rührung. Das
war es wohl, was ihn den Wählern wert gemacht hatte. Sie konnten sich einen weinenden General nicht vorstellen.
Deshalb sagten sie sich mit Recht, dass er kein schlechter Kerl sei. Ein General, der statt Blut Tränen
vergießt, ist in Ordnung. Fürwahr. Der General war ein guter Bürgermeister, aber ein miserabler Redner, und das
gefiel den Leuten.
*
Auch mir sind schlechte Redner lieber als jene
gewaltigen Naturen, die mit ihrer Stimme alles in Grund und Boden donnern. Bei unbegabten Rednern kommen wir
zum Essen niemals zu spät. Bei begabten Rednern müssen wir den Riemen enger schnallen. Es dauert lange, bis sie
einsehen, dass es genug ist. Ihrer Rede Sinn ist Missbrauch der Geduld der anderen.
Ich glaube, dass niemand bereit ist, länger als
fünfzehn Minuten zuzuhören. Nach der fünfzehnten Minute fängt jeder an, sich mit seinem Innenleben zu
beschäftigen. Deshalb lohnt es sich gar nicht, begabte Redner zu engagieren. Sie erregen Unwillen. Jedenfalls
sollte man ihnen vorsichtshalber Böllerschüsse mit Zeitzünder ans Stehpult binden.
Derartige „Fasse-dich-kurz-Böller" müssten an jedem
Saaleingang zu kaufen sein, damit man sie notfalls gleich zur Hand hat.
*
Einmal stand ich hinter einem Ratsherrn, dem die
Aufgabe zugefallen war, zum Tag des Baumes eine Ansprache zu halten. Er hielt auf dem Rücken mit beiden Händen
das Manuskript fest. Hände, Manuskript und Rücken zitterten unaufhörlich - ein bejammernswerter Anblick. Der
Redner hatte Angst, und dabei ist Baum doch ein verhältnismäßig bequemes Thema. Milchpreis zum Beispiel ist viel
schwieriger. Keine Pappel nimmt es einem übel, wenn man bei Eiche kurz bleibt.
Nun, als der Mann zu sprechen anfing, setzte sich
das Zittern auch in der Stimme fort. Das Manuskript war unleserlich zerknautscht, und die Anwesenden erfuhren
nur, dass wie alljährlich so auch diesmal wieder der Tag des Baumes herangekommen sei. „Und in diesem Sinne",
fuhr der Zitterredner fort, „wollen wir jetzt einen Baum pflanzen."
Es war eine schöne Ansprache, kurz und zutreffend,
und die Tat folgte ihr auf dem Fuße; denn ein neuer Baum ist eine Tat, davon lasse ich mich nicht
abbringen.
*
Unvergesslich ist mir ein Mann, der seine kaum
begonnene Rede mit folgenden Worten abbrach: „Meine Damen, meine Herren! Ich bin zerstreut.. Entschuldigen Sie
bitte. Ich erwarte daheim ein freudiges Ereignis“. Sprach's und drehte der Gesellschaft den
Rücken.
Der Mann hatte einen Vortrag über den störenden
Einfluss des Wetters auf die Herstellung irgendwelcher Fabrikate zu halten - und was tat er? Der störende
Einfluss des Wetters auf die Herstellung irgendwelcher Fabrikate ist ihm plötzlich schnuppe. Er beschloss zu
handeln, statt vorzutragen. Ihm gebührt der Lorbeer der kurzen Rede.
Sein Beispiel möge bahnbrechend wirken für alle Redner, die sich dem Stehpult jemals
nahen.
Eine Brücke ist eine Tat. Auch ein Baum ist eine
Tat. Aber ein freudiges Ereignis? Das ist die Tat der Taten... Ihm nach, ihm nach...
Bernhard Schulz, Neue Tagespost Osnabrück
1956
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