Der Tote aus Murdasowo
Jemand erzählte eine Geschichte. Er habe sie selbst nicht erfunden, sagte er, sie sei ihm
gleichsam wie ein Geschenk zugeflogen. Als er sie erzählte, ging draußen Wind, die Bäume ächzten unter den
pfeifenden Stößen, welke Blätter taumelten in die Wasser-lachen auf der Straße, und alles in allem war es kalt und
ungemütlich. Aber es war ein Sonntag, die Dorfbewohner ruhten von ihrer Arbeit aus, sie steckten in ihren besten
Kleidern und schritten mit strengen Mienen einher. Totensonntag, sagten die Leute, wir wollen ein wenig schneller
gehen, damit wir heimkommen. Sie hockten auf der Bank am Ofen und dachten an ihre Toten draußen in der frostigen
Novemberluft, in der Reihe der tausend und aber tausend anderen Toten, die dort zur ewigen Ruhe gebettet lagen.
Vielleicht war es dies, dass sie sich besannen, auch ihnen sei eines Tages dort eine Grube zugewiesen, in derselben
nassen Erde, in derselben frostigen Winterluft — sie baten den Erzählenden, er möge ihnen noch mehr sagen, es sei
ihnen recht zu Herzen gegangen, und sie fänden Trost darin. Was er erzählte, war dies:
„Ich kannte einmal eine junge Frau, die hatte amtliche Nachricht bekommen, dass ihr Mann erfroren sei, in einem
Dorf namens Murdasowo in dem großen Russland. Sie hatte ihren Mann sehr lieb gehabt und sie fand fortan keine
Ruhe mehr in dem Gedanken, ihr Mann sei nicht tot und liege mit erfrorenen Füßen beerdigt worden, und die
Gefangenen schrieben, dass sie heimkehren würden. Der jungen Frau wäre es tröstlich gewesen, wenn sie auf dem
Friedhof, der die Toten ihres Dorfes barg, ein Fleckchen gehabt hätte, darin ihr das Liebste ruhte und dem
Wiedersehen entgegenharrte. Sie kam auch alsbald auf den Gedanken, hinter der starren Reihe der eingefriedeten
Grabmäler der Reichen und der vom Regen verwaschenen Holzkreuze der Armen, an der Hecke, dort, wo niemand mehr
Anspruch erhob, begraben zu werden, ein Fleckchen Erde, groß wie ein Handtuch, als ihr eigen zu betrachten. Sie
bedeckte es mit Kieselsteinen, bepflanzte es ringsum mit Buchsbaum und Stiefmütterchen, und an den Sonntagen bevor
sie zur Kirche ging, bestellte sie es mit frischen Blumen. Zu Allerseelen brachte sie ein Licht, wie es auch die
anderen hielten, und für den Weihnachtsabend putzte sie ein Tänn- lein mit Engelhaar und vergoldeten Nüssen, und
der Tote dort unten hatte es jetzt so gut wie daheim.
Die Menschen wunderten sich ob ihres seltsamen Gebarens, und der Friedhofswärter schalt sie närrisch. Aber er ließ
sie gewähren, wenn er sie beim Wind und Wetter an der Hecke knien und weinen sah.
Die Jahre gingen ins Land, die junge Frau ließ nicht nach zu weinen und zu beten und das Grab so liebevolll zu
hegen, dass es jetzt schon so selbstverständlich und vor aller Augen dalag wie die anderen Gräber. ,Hier ist
Murdasowo' sagte sie. Sie vermochte das fremde Wort kaum auszusprechen, denn es war schwer wie regennasse Erde, die
an den Füßen klumpt. Die junge Frau wurde darin immer seliger, zu glauben, dass hier Murdasowo sei, und dass an
dieser Stelle ihr toter Mann am Jüngsten Tage, da alles Fleisch aufersteht, sich ihr erneut vereine und nicht den
langen Weg von Murdasowo weit weit in Russland bis in ihr Heimatdorf zurückzulegen brauche, mit seinen
erfrorenen Füßen' sagte sie dann jedes mal."
Die Zuhörer schwiegen nachdenklich. „Mit seinen erfrorenen Füßen, ja, ja." Draußen heulte der Sturm über die
Dächer, und Dunkelheit kroch durchs Fenster. „Der Glaube dieser Frau", sagte einer, „beweist, wie sehr der Wunsch
nach Auferstehung und Wiedervereinigung in uns mächtig ist. Dieses Grab an der Hecke ist ein Symbol . . ."
„Ein Symbol?" lächelte der Erzähler. „Wollen Sie die Geschichte zu Ende hören? Oh, sie hat ein
Ende, sie brauchen nicht auf den Jüngsten Tag zu warten. Der Mann der Frau kehrte zurück, aus dem Schnee in
Murdasowo, gestern oder vorgestern, die Leute erzählen es überall. Seine Füße sind ab. Er geht an Krücken.“
Von Bernhard Schulz
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