Sie haben den Jungen einiges voraus 1959
Sie trägt Blond mit einem Farbton, der kaum merklich ins Graue hinüberspielt. Wenn man ihr sagt,
dass sie jung sei und dass ihr die Hoffnung wohl ansteht, nicht immer hinter der Schreibmaschine sitzen zu müssen,
lächelt sie müde. Sie nimmt das Kompliment dankbar an, aber sie weiß, dass sie nicht mehr jung ist.
Sie lächelt anders als jene Mädchen, die überzeugt sind, dass sie durch ihre Jugend wirken. Auch spielen
Lippenstift und Puderdose längst nicht mehr die Rolle purer Affektation. Sie kann hinwerfen: „Ich bin doch kein
Badefisch mehr.“
Das soll heißen: Von Backfischen verlangt man nicht, dass sie nach Diktat in die Maschine schreiben. Backfische
brauchen nicht zu wissen, wie „Wechseldiskont“ geschrieben wird und wie man Ihn berechnet. Backfische sind da, um
Lehre anzunehmen, das Büro zu verschönern und für den Chef Blumen einzukaufen, wenn er einen Besuch macht. Das
ältere Fräulein setzt die Lehrlinge ein wenig hintenan. „Ihr habt noch Zeit“, denkt Fräulein Prittwitz. Das haben
sie auch.
Sie macht keine Tippfehler mehr, sie kann ihr Stenogramm lesen, als gäbe es nichts Geringfügigeres als
stenographisches Gekritzel. Das ist ihr Beruf. Aber hinter den Beruf ist die Ehe gesetzt, der eigene Herd und die
Paradekissen im Schlafzimmer. Daran denkt sie, dass sie gern heiraten möchte.
Sie beschäftigt sich damit, zu überlegen, wer in Frage käme. Hm... Die in Frage gekommen wären, sind aus dem Krieg
nicht helmgekehrt. Sie liegen in Dörfern begraben, die Alezandrowka oder Belintschlskaja heißen. Namen, die ihr
geläufig sind und die sie den Backfischen voraushat.
Weiter hat sie den Backfischen voraus, dass sie sich an den Ton der Warnsirenen erinnern kann, an das Stampfen
teppichweise fallender Bomben, an Brandgeruch, Tote, Uniformen, Abschiedsszenen, Transportzüge, Einquartierung,
Soldatenlieder, Vierfruchtmarmelade, Wistra und Luftschutzunterricht.
Fräulein Prittwitz hat ihre Jugend den Stunden und Nächten des Fliegeralarms geopfert. Meist saß sie im Bunker,
aber oft musste sie auch im Keller bleiben, weil die Flieger schon da waren. Sie hatte schreckliche Angst. Statt zu
tanzen, hockte sie sonntags am Rundfunkgerät und wartete auf Alarm. Statt ins Grüne zu radeln, musste sie
Gepäckstücke und Volksgasmasken an sich raffen und unter dem Schwellton besessener Sirenen zum Bunker stürzen.
Sie kennt keine richtigen Liebesbriefe mit dem Lavendelduft dickbauchiger Aussteuerkisten. Sie kennt Feldpostkarten
mit nüchternen Angaben: „Deinen Brief gestern bekommen. Lagen drei Tage in Ruhe. Heute soll es wieder nach vorne
gehen. Der Schlamm ist das Schlimmste. Ist Mutter wieder besser? Wie geht es Vater? Grüße alle recht herzlich von
mir.“
Viele solche Karten hat Fräulein Prittwitz in einer Pappschachtel liegen. Dazu ein Ordensbändchen, eine zerbeulte
Uhr, einen Verlobungsring und ein Schreiben von irgendeinem Leutnant und Kompanieführer, der aufrichtig bedauert,
mitteilen zu müssen .... der Tapfersten einer... Vaterland ... nie vergessen... Kameraden..
Mit solchen Worten ist Fräulein Prittwitz vollgestopft. Mit solchen Worten und mit Kenntnissen in Rechtschreibung,
amerikanischer Buchführung, Einheitskurzschrift, Warenkunde, Bankverkehr, Postgebühren. Aktenablage,
Angestelltenversicherung, Lohnbuchhaltung, Krankenkasse, Einkommensteuer, Strumpfpreisen, Adressen von billigen
Schneiderinnen, Backrezepten und Romanlektüre ist Fräulein Prittwitz geradezu genudelt
Aus den Paradekissen wird nichts. Fräulein Prittwitz spielt nicht in der Lotterie. Sie tippt nicht. Sie löst keine
Preisrätsel. Sie entdeckt keine Schönheitsperlen. Sie entwirft keine Baupläne.
Sie sitzt hinter ihrer Schreibmaschine und tippt: „Bezugnehmend auf Ihr geehrtes Schreiben vom Datum teilen wir
Ihnen mit Komma dass wir Ihr Angebot betreffend Preisliste Nummer dreizehn Strich achtundzwanzig elf großes B
Komma...“
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