Nichts Schlimmeres als Möweneier (1963)
Was ein Siel ist, kann man durch das Lexikon erfahren. Das (oder: der) Siel ist ein
Auslaßbauwerk in einem Deich zur Entwässerung eingedeichter Niederungsgebiete bei niedrigen Außenwasserständen.
Leser, die je mit einem Siel zu tun gehabt haben - es gibt immerhin Sielverbände - wissen sofort Bescheid. Das Siel
ist für sie eine nützliche und auf gar keinen Fall aufregende Sache. Aufregend ist das Siel nur für den
Binnenländer, wie hier oben an der See jener Mensch genannt wird, der aus dem Inneren des Landes kommt und von
nichts auf der Welt eine Ahnung hat, vom Siel schon lange nicht. Für diesen Besucher, der nur Teerstraßen und
Bürohäuser kennt, ist das Siel eine merkwürdige und sogar poesievolle Angelegenheit. Schon der Name eines solchen
Siele ist bemerkenswert. Ich wähle einige auf: Greetsiel. Rüstersiel. Altharlingersiel. Carolinensiel. Horumersiel.
Hilgenriedersiel. Kniphausersiel. Fedderwardergrodensiel.
Ich finde, daß allein das Wort Fedderwardergrodensiel geeignet ist, einen Mann so weit zu bringen, daß er den Kram
in seiner Teerstraßenstadt hinwirft und zu den Fischern überläuft; denn rings um das Siel wohnen lauter Fischer.
Der Ort besteht aus zehn bis fünfzehn niedrigen Backsteinhäusern, und einer davon ist die Gastwirtschaft, in der
die Fischer nach dem Fischfang umhersitzen und Tee mit Kandis und Sahne trinken. Oft sitzen sie auch nur da, weil
wegen des Siels, das ja dem Verband gehört, eine wichtige Entscheidung getroffen werden muß, und bei einem
richtigen Siel sind immer wichtige Entscheidungen zu treffen.
Die Boote liegen hinter dem Deich in einem kleinen Hafen. Man kann durch die Fenster der Gaststube die Masten
schwanken sehen. Hinter dem Deich ahnt man die See, die weiß in das Küstenland hineinschäumt. Die Brandung lärmt
bis an den Tresen, der ein wenig altmodisch eingerichtet ist, aber hübsche holländische Kacheln hat. An den Wänden
hängen Pfannen und Teekessel aus blankem Messing. Auf Fernsehprogramme und Glücksspiele ist hier niemand erpicht.
Es sieht aus, als wäre die Zeit vor einhundert Jahren stehen geblieben.
Die Zeitung kommt spät am Nachmittag, und im lokalen Teil ist die fetteste Meldung die, daß "dem Bootseigner Heino
Steencken eine Wollhandkrabbe ins Netz gegangen ist". Ich verstehe nichts von Wollhandkrabben, aber ich nehme mir
vor, dieser Art aus dem Wege zu gehen. Man gerät in die Zeitung, wenn man mit einer Wollhandkrabbe angetroffen
wird.
Vor einem dieser Backsteinhäuschen, die sich hinter dem Deich in die Stille ducken, steht eine Ruhebank, und über
der Bank ist ein Schild angebracht: "Bank für die Alten". Ich finde das nett. Wenn man alt genug ist, soll man
Gelegenheit haben, irgendwo ungestört zu sitzen und dem Treiben der jungen Leute zuschauen zu dürfen.
Hier sitzen die alten Seebären und atmen den Duft der Krabben, die auf den Schiffen gekocht werden. Die Möwen
kreischen und stürzen hierhin und dorthin, und plötzlich fällt aus dem Möwenhimmel ein Ei herab, einem Opa mit
Bartkrause und kalter Pfeife im Mundwinkel vor die Holzpantinen.
Der Opa erhebt sich, nimmt das Ei in die Hand und zeigt es den anderen Opas mit Bartkrause und kalter Pfeife im
Mundwinkel. Sie sehen einer so rüstig aus wie der andere, und jetzt haben sie ein großartiges Thema. Ein Ei fiel
aus zwanzig Meter Höhe herab und zersprang nicht. So gut sind hier die Eier.
Ich nehme mir vor, den Wirt in der Gastwirtschaft um ein Zimmer zu fragen. Sollte der Mann ein Zimmer frei haben,
dann bleibe ich bis morgen Abend, um nachzulesen, ob Möweneier in die Zeitung kommen. Das wäre ein Zeichen dafür,
das hier vom Himmel nichts Schlimmeres herabkommt als Möweneier.
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