Der Indianer überm Schreibtisch (1962)
Über dem Schreibtisch meines Vaters hing ein gerahmter Druck, der einen Indianer darstellte. Ich
wette, daß dies die einzige Rothaut war, die irgendwo in Europa über einen Schreibtisch hinwegblickte.
Meine Kinderjahre hindurch habe ich diesen Indianer betrachtet, aber ich habe mir nie Gedanken über ihn gemacht.
Ich weiß nur soviel, daß es sich um ein Plakat handelte, das für eine Biermarke Werbung trieb.
Der Indianer auf dem Bild sollte den Amerikanern Durst machen, und wenn sie genügend Durst hatten, dann sollten sie
ihre Cents auf jeden Fall nur für Hotops Beer ausgeben, denn Hotops Beer war das beste Bier in den Staaten.
Außer dem Plakat hatten wir noch ein bemaltes Tongefäß, einen präparierten Ochsenfrosch und allerlei klimpernden
Silberschmuck in der Wohnung, lauter Dinge, die aus dem Wigwam eines Indianers herrühren mochten.
Aber das Bewundernswerteste war doch das Bild; denn der Mann, der darauf dargestellt war, kam uns so edel und so
traurig vor, daß wir mit seiner Person die ganze indianische Rasse in unser Herz schlossen.
Er war ein junger schöner Mann, der in seiner Lederkleidung, mit der Häuptlingsfeder im blauschwarzen Schopf, auf
einer Felsenklippe stand und zum Sternenhimmel aufschaute. Unter ihm lagen Abgründe voller Nebel und
Feindseligkeit. Auf den ersten Blick hatte dieser Mann mit Durst und Bier und Business nicht das geringste zu tun.
Gewiß sollte das Bild ausdrücken, daß sich der Indianer mit Manitou, dem großen Geist besprach und ihm sein Leid
klagte.
Mein Vater las mit Vorliebe Bücher über das Leben der Rothäute, und das Bild des Indianers über seinem Schreibtisch
nötigte allen Besuchern ein seltsames Lächeln ab. Sie fragten jedesmal: "Ist das ein Indianer“, und „wo haben Sie
den bloß her“.
„Aus Amerika“, antwortete der Vater. Das war nicht gelogen. Eine Schwester meines Vaters, die mit achtzehn Jahren
ausgewandert war, um bei Verwandten zu leben, hatte das Plakat, den Ochsenfrosch und das Silbergeklimper geschickt.
Sie wollte damit wohl die Existenz der Indianer belegen und ein wenig auch mit ihren Reiseerlebnissen prahlen.
Wenn man Vater glauben durfte, und das durfte man ja, war Tante Modesta eine schöne Frau, die drüben einen
Heiratsantrag nach dem anderen erhalten hatte, natürlich in der Hauptsache von Millionären, die es sich leisten
konnten, Tante Modesta nach Kansas zur Jagd oder nach Texas zum Derby einzuladen.
Tante Modesta war heute in New York und morgen in San Francisco, mal in Detroit und mal in Chicago, und von
überallher schickte sie bunte Ansichtskarten in die Stadt, die sie verlassen hatte, um sich zu überzeugen, daß
Indianer keine Erfindung von Romanschreibern seien.
"Es wimmelt hier von Indianern", schrieb sie einmal, "einer wird als Bauarbeiter und einer als Fensterputzer
beschäftigt."
Tante Modestas Karten wurden in einem Album gesammelt und lieben Gästen vorgezeigt. Man amüsierte sich über ihre
burschikose Art, und heimlich beneidete man sie um die Abenteuer, von denen sie schrieb.
Ich weiß heute, daß es da nicht viel zu neiden gab. Eines Tages kehrte Tante Modesta zurück, ohne Millionär. Sie
litt an Heimweh. Allerdings hatte sie einen großen Auftritt, was ihre modische Erscheinung anging. Sie übertraf an
Eleganz alles, was in unserer Stadt lange Röcke trug.
Mein Vater bekam damals den Revolver geschenkt, mit dem Tante Modesta in Ohio einen eifersüchtigen Liebhaber
gezähmt hatte. Sie war jetzt dreiundzwanzig Jahre alt, und sie sagte, daß sie den Indianer über Vaters Schreibtisch
hätte bekommen können, wenn sie gewollt hätte. Er war Besitzer jener Brauerei, für die das Bild Reklame mache.
"Bier für Indianer", sagte sie.
Ein Jahr nach der Rückkehr heiratete Tante Modesta einen Postangestellten. Sie starb in ihrem ersten Wochenbett,
und zwar an jenem Tage, an dem der indianische Brauereibesitzer eintraf, um Tante Modesta zu besuchen.
Mein Vater sagte später, er hätte nie in seinem Leben einen Mann gesehen, der trauriger und enttäuschter gewesen
wäre als Mister Hotop. "Er sah gar nicht wie ein Häuptling aus", sagte er, "aber im Geschäftsleben tragen sie ja
wohl keinen Federschmuck."
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