Aus dem Nähkörbchen geplaudert (1974)
Lebt es noch, das Nähkörbchen? Ja, es lebt – trotz des Fortschritts, dem sich auch im Haushalt
allmählich alles unterordnet. Freilich dient es im Allgemeinen nur der Aufbewahrung jener Utensilien, die für die
Flickarbeit unentbehrlich sind. Außerdem ist es auch kein Körbchen mehr, sondern eine Truhe aus poliertem Nussbaum,
deren Fächer sich scherenartig öffnen.
Ein Modell ist sogar beweglich und lagert auf einem fahrbaren Untersatz mit Gummibereifung. Es ist ein richtiges
kleines Nähfahrzeug, das unserem Verlangen nach Bequemlichkeit und Komfort entspricht.
In der Wohnung meiner Großmutter gab es am Fenster zur Straße hin eine bühnenartige Erhöhung und auf dieser
Erhöhung, Podest genannt, stand neben dem Ohrenbackenstuhl ein Säulentisch mit dem Nähkörbchen, immer zur Hand für
den Fall, dass ein Knopf anzunähen oder ein Loch im Strumpf zu stopfen sei. Von der Decke herab ging ein Topf mit
blühenden Geranien, und auf der Fensterbank stand der Käfig mit dem Wellensittich. Vergessen wir nicht, den Spion
zu erwähnen, der es Großmutter erlaubte, das Leben auf der Straße zu beobachten.
Unser Lokalblatt hatte eine ständige Rubrik, die „Aus dem Nähkörbchen geplaudert“ hieß und der Veröffentlichung
klatschsüchtiger Leserzuschriften diente.
Die Welt war klein und reichte nicht weiter als von einer Postkutschenhaltestelle zur anderen. Pfarrer, Amtsrichter
und Oberlehrer trugen gemeinsam die Last er Autorität und Herr Pütz, der einen Kolonialwarenladen betrieb, wurde
als königlich eingestuft.
Über den Nähkorb gebeugt, wurde nicht nur das Garn zum Strumpf verhechelt, sondern auch der wenig reißfeste Faden
der üblen Nachrede verhäkelt. Geheimnisse wurden hier gehütet. Das Nähkörbchen war mehr als ein Behälter für
Wollknäuel und Stopfgarn, es war auch die Schublade für Koch- und Backrezepte, für Arzneien, Briefe aus Amerika,
Totenzettel Fotografien, Kitschpostkarten und Spezereien von erregendem Duft, ja sogar für blonde Locken vom Kopf
des Enkelkindes und sein erstes Zähnchen.
Totenzettel stellten in Großmutters Sammelsurium einen besonderen Posten dar. Sie hatte nach jedem Begräbnis, an
dem sie teilgenommen hatte, diesen dem Gebet zugedachten Zettel eingesteckt. Mit den Jahren war es ein Bündel
geworden, dich wie ein Kartenspiel, und ab und zu deckte sie das Bündel auf, um sich zu erinnern, wie die Menschen
beschaffen gewesen waren, an deren Seite sie gelebt hatte.
„Alle waren gut und edel“, sagte sie.
Aus Großmutters Nähkörbchen stiegen Erinnerungen ans Tageslicht, Weisheit und Trost, Ratschlag und Zuversicht.
Heute erscheint mir das Körbchen als liebenswürdiges Überbleibsel einer Zeit, in der es keinen Drogenhandel und
keine Angst vor explodierenden Atommeilern gab.
Großmutter konnte heitere und spannende Geschichten erzählen. Jetzt kommen die Geschichten durchs Radio und über
den Bildschirm, und in der polierten Nähtruhe auf dem Fahrgestell mit Gummibereifung liegen Tabletten gegen
Schlafstörung und Kopfweh.
So ändern sich die Zeiten.
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