Ein Fremder am Tisch 1962
Er saß in einer jener kleinen Weinstuben, in denen man sich ausruht, wenn die Arbeit getan oder
der Weg beendet ist. Er hatte einen Roten vor sich stehen, dessen Bouquet er mit Kennermiene prüfte.
"Setzen Sie sich", sagte er, "und nehmen Sie diesen. Es ist ein Zweiundsechziger, der gar nicht besser sein
könnte."
Ich setzte mich an seinen Tisch, weil ich gelernt hatte, dass sich Menschen hier nicht auseinander, sondern
zueinander setzen.
Durch das offene Fenster sahen wir auf dem Hang drüben die Weinbauern bei der Arbeit; sie setzten neue Stöcke, an
denen sich die Reben hochranken würden, und sammelten das alte Holz ein, und sie zeigten dabei keine Spur von Hast.
Kleine Feuerchen glühten, und weißer Rauch ringelte sich in den blauen Frühlingshimmel, den im Westen die Sonne
apfelrot zu färben begann.
Er wartete, bis die Wirtin auch mir den Wein gebracht hatte, und dann hob er das Glas und sagte, "Nun denn; wohl
bekomms!" Wir kosteten und schauten einander an, als seien wir alte Bekannte, die sich zu einem Schwatz getroffen
haben.
Der Fremde hatte auf den ersten Blick eine Ruhe erkennen lassen, die ihn anziehend machte. Es gibt Männer, die
einfach dasitzen und die Ereignisse an sich herankommen und vorbeiziehen lassen, was das auch immer sein mag. Sie
sind entschlossen, den Augenblick zu genießen.
Nach einer Weile, in der wir die Wirtin in der Küche singen gehört hatten, dachte ich, dass etwas gesagt werden
sollte, und ich fragte: "Wohnen Sie hier?"
"Nicht ganz und gar", antwortete er zögernd, als gäbe er ein Geheimnis preis, "ich lebe in der Großstadt, und wenn
ich einen freien Tag habe, fahre ich heraus. Es gefällt mir hier. Bett und Mahlzeiten sind preiswert, und die Ruhe
ist unbezahlbar. Dieser Ort ist tausend Jahre älter als die Stadt mit ihren Fabriken. Ich arbeite in einem
Chemiewerk."
Im Dorf fingen jetzt die Glocken zu läuten an, und eine Taube setzte sich auf die Fensterbank und trippelte gurrend
her und hin.
Der Mann stand auf, um aus der Küche Brot zu holen. "Der Wein ist dann bekömmlicher", sagte er. Als er durch den
Raum schritt, sah ich, dass er ein Bein nachzog, und im Ganzen betrachtet war er ein kleiner, etwas zu viereckig
geratener Mann. Ich schätzte sein Alter auf vierzig Jahre.
"Krieg?" fragte ich.
"Fliegerbombe. Ich war verschüttet, aber sie gruben mich nach drei Tagen aus. Wie Sie sehen, bin ich am Leben
geblieben, wenn auch mit einem steifen Bein."
So geht das also, dachte ich. Du setzt dich zu einem Fremden an den Tisch, und gleich ist ein Schicksal im
Gespräch. Sirenengeheul. Flucht in
den Keller. Worte aus dem Lautsprecher: Im Anflug auf. Dieses Brummen am Himmel. Dieses Stampfen der Bomben. Dieses
Heben der Erde. Und dann das Haus, das einstürzt. Und: Rettet mich, holt mich raus, kommt doch endlich.
Der kleine viereckige Mann lächelte. Er hatte jetzt den Wein und das Brot dastehen, und es ging ihm gut. Draußen am
Berg setzten sie neue Rebstöcke. Im Haus nebenan zog der Bäcker frisches Brot aus dem Ofen. Es war Bauernland,
Weinland, Urlaubsland. Es war ein Dorf mit alten Fachwerkhäusern und einer Kirche aus buntem Sandstein, dick wie
eine Festung, und mit Ochsengespannen, die abends am Brunnen getränkt wurden.
"Sehen Sie", sagte der Mann, "dort liegt der Friedhof. Hier werden die Toten noch richtig beerdigt, und man weiß,
wo sie liegen. Sie bekommen
einen Stein, auf dem geschrieben steht, wie alt sie geworden sind und dass sie an Gott geglaubt haben.“
"Denken Sie jetzt an das Haus, das über ihnen zusammengestürzt ist", fragte ich.
Er antwortete nicht sofort. Er schaute durchs Fenster auf den Weinberg drüben. Die Bauern hatten den Berg
verlassen, den Berg mit seinen Rebstöcken und Treppchen und den kleinen glimmenden Feuerchen, die wie Augen
waren.
"Es war ein großes Haus“, sagte er, "es wurde von zwölf Familien bewohnt, und sie hatten eine Menge Kinder, Knaben
und Mädchen, und ich kannte sie alle."
"Und?" sagte ich.
"Sie wurden unter den Trümmern begraben. Ich war der einzige, den sie lebend herausholen konnten. Aber warum
erzählt man das immer wieder? Entschuldigen Sie. Wir brauchen ein anderes Thema. Haben Sie bemerkt, dass die Hecken
über Nacht grün geworden sind? Es ist jedes Mal ein Wunder, nicht wahr?"
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