Ein Haus aus Schokolade
Unter den Gegenständen, die dem Chef zur Vollendung seines
fünfzigsten Lebensjahres geschenkt wurden, befand sich ein Haus ganz aus Schokolade. Das heißt, nur das Fundament
und die Außenwände waren aus Schokolade, die Fenster bestanden aus Nougat, das Dach aus Marzipan und innen war das
Gebäude mit dem feinsten Biskuit gefüllt.
Es war eine Nachbildung des achtstößigen Verwaltungsgebäudes, das
Generaldirektor X. vor drei Jahren hatte erbauen lassen. Die Herren in seiner Umgebung und vor allem das
Fräulein Generalsekretärin wussten, dass im Schreibtisch des Chefs nicht nur Zigarren und Whisky aufbewahrt
wurden.
„Er nascht", gestand sich das Fräulein vor Verwunderung ein, als
es Stanniol im Papierkorb des Chefs fand. Anfangs hatte sie sich den leitenden Herrn eines Werkes, das
eintausend Arbeiter beschäftigte, nur mit Zigarre und Cognac im glas vorstellen können. Dann erfuhr sie mit der
Zeit, dass der Chef sogar Erfindungen machte im Reich der Süßigkeiten.
Der Chef war im Nebenberuf eine Art Bonbonkocher. So hatte er zum
Beispiel angeregt, Pralinen mit Birnenschnapsfüllung herzustellen und Ananas mit einer neuartigen Nougatmasse zu
überziehen. Mitarbeiter, die er schätzte, und selbstverständlich auch das Fräulein Generalsekretärin, pflegte er
dadurch auszuzeichnen, dass er ihnen statt Alkohol Süßigkeiten anbot,
Dieser Umstand hatte die von ihm bevorzugten Angestellten auf die
Idee gebracht, das achtstöckige Verwaltungsgebäude beim ersten Konditor der Stadt als Naschwerk in Auftrag zu
geben.
Das dreißig Kilo schwere Haus wurde bei der Geburtstagsfeier von
vier Gesellen in das Konferenzzimmer getragen, was bei den zur Gratulationscour erschienenen Gäste törichten
Jubel hervorrief. Nun war also die heimliche Sünde des Direktors offenbar geworden; das Geschenk hatte ihn als
Lecker maul entlarvt.
Die Gattin schämte sich richtig ein bisschen, und daheim sagte
sie: „Ein Haus ganz aus Schokolade? Das wird deiner Autorität schaden!"
Die Schokolade schadete nicht. Im Gegenteil. Das achtstöckige
Knusperhaus macht den Chef so menschlich. „Wird er es essen?" fragte man sich, und: „in wieviel Monaten wird er
es schaffen — und wie dick ist er dann?" Man schloss Wetten ab und erkundigte sich täglich bei der
Vorzimmerdame, bis zu welchem Stock sich der Direktor hinabgeknabbert habe.
Er knabberte überhaupt nicht. Er rührte das Haus nicht an, obwohl
es aus feinster Schokolade und bestem Biskuit bestand. Es thronte jetzt schon sechs Tage im Konferenzzimmer und
wurde allmählich altbacken. Besprechungen fanden nicht mehr statt. Der Chef machte Pause. Er stand vor dem
Knusperhaus und seine rechte Hand schloss sich in der Tasche um ein Messer. Er wagte es nicht.
Er wagte nicht, das Haus zu zerstören, das er gebaut
hatte.
Sein Herz rebellierte gegen die Zumutung, das Abbild seines
Lebenswerkes aufzuessen, seine Stockwerke zu vernaschen und die Arbeitsräume zu verschlingen.
Er tippte mit dem Finger gegen das Fenster, hinter dem sein
Arbeitsplatz lag. Dort plante, telefonierte und diktierte er. Dort hatte er seine besten Einfälle. Dorthin
lockte er die großen Aufträge. Dort war er Brotherr und Respektsperson.
Dort handelte er.
Und er wollte auch diesmal handeln. „Verbinden Sie mich mit dem
Waisenhaus", befahl er. „Kann ich die Frau Oberin sprechen? Am Apparat? Hören Sie zu: Haben Ihre Jungen Appetit
auf Schokolade? Gut. In einer Stunde ist das Zeugs da. Kein Dank nötig .."
Bevor im Waisenhaus das Abendessen aufgetragen wurde, war von dem
achtstöckigen Haus aus Schokolade kein Krümel mehr vorhanden.
Nr. 163 / Samstag, 22. Juli 1961
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