Meine Strafe hieß Selma 1973
Immer, wenn meine Mutter Schweine sah, sei es vom Auto aus oder durch die Fenster eines Wagens
der Eisenbahn, Schweine, die in der Nähe eines Bauernhofs die Erde aufwühlten und in der Sonne lagen, dann fiel ihr
eine Geschichte ein.
»Eines Tages«, so begann ihre Lieblingsgeschichte, »war der kleine Otto von Bismarck verschwunden. Die Mutter hatte
ihn den ganzen Tag über gesucht, aber sie hatte ihn nirgends gefunden. Endlich, nachdem bereits die Gendarmerie
alarmiert war, wurde er von einer Bäuerin aus dem Dorf abgegeben. Als die Mutter den kleinen Otto erblickte, der
über und über mit Unrat bedeckt war und übel roch, rief sie entsetzt: Wo hast du gesteckt? Und der kleine Otto
antwortete: Bi Puttfarken sien lütt Swien!«
Meiner Mutter gefiel es, dass jemand, der im späteren Leben als Fürst und Reichsbegründer und Verfasser eines
Memoirenwerkes hervortrat, sich als Kind mit einem lütt Swien gemein gemacht hatte. Außerdem mochte sie den Namen
Puttfarken, und sie sagte, dass sie eine Frau gekannt habe, die Amalie Puttfarken hieß und deren Großmutter
möglicherweise jene Bäuerin gewesen sei, die den kleinen Otto aus der Suhle gezogen und im Schloss abgegeben
hatte.
Wie dem auch gewesen sein mag, ich finde den anekdotischen Gehalt ihrer Geschichte bemerkenswert, und er erinnert
mich an meine eigene Kindheit. Ich bin nie so weit gegangen, mich mit einem lütt Swien einzulassen, aber ich habe
in meinem achten Lebensjahr eine Kuh gehütet, und das ist doch schließlich auch etwas. Ich habe die Kuh mittags
abgeholt und abends heimgebracht. Ich habe ihr gut zugeredet und sie am Schwanz aus dem Rübenacker anderer Leute
herausgezerrt. Ich habe ihr die Wampe getätschelt und heimlich sogar Milch in eine Konservendose gemolken.
Und bei all diesen Verrichtungen bin ich ebenfalls schmutzig geworden und roch schlecht, so dass meine Mutter mich
nicht wiedererkannte und für den kleinen Otto von Bismarck hielt, obwohl ich niemals Hoffnung nährte, dass ich im
späteren Leben ein Reich gründen würde. Ich habe auch keins gegründet, ehrlich, aber es kann sein, dass ich einfach
nicht dazu gekommen bin.
Die Kuh, die ich hütete, hieß Selma und war das Eigentum der Witwe Müller, die selbst keine Zeit hatte, die Kuh am
Straßenrand entlangzutreiben, weil sie Hemden und Umlegekragen bügeln musste. Alle Männer im Dorf trugen
Umlegekragen, die von der Witwe Müller gestärkt und gebügelt worden waren. Es war ihr Verdienst, dass die Männer an
Sonntagen, wenn sie mit ihren Familien zur Messe gingen, ordentlich aussahen. An den Auftrag, die Kuh der Witwe
Müller Berta allhier zu hüten, war ich über den Ortspolizisten geraten, der mir ein karitatives Werk als Strafe
auferlegte, weil ich versucht hatte, ein Kälbchen, das geschlachtet werden sollte, zu befreien. Bei dem
Befreiungsakt hatte ich den Schlachter Markmann Leo in die Wade oder in die Hand oder in den Hintern gebissen, so
dass derselbe Anzeige wegen Körperverletzung erstattete.
So kam ich also mit Selma zusammen, mit der Kuh der Witwe Müller, die ihr Futter an den Rändern der Straßen und auf
den abgeernteten Wiesen der Bauern fand. Erst sollte die Strafe eine Woche dauern. Aber dann
hütete ich aus Trotz freiwillig weiter, und mit der Zeit führte ich das abenteuerliche Leben eines vorbestraften
Knaben, der in der Asche eines Holzfeuerchens Kartoffeln brät, Selmas warme Milch trinkt und in der milden
Herbstsonne dasitzt und an die Zukunft denkt.
Wenn der Schlachter mit einem Kalb vorbeikam, das geschlachtet werden sollte, damit die Männer mit ihren gestärkten
Kragen sonntags einen Braten auf dem Tisch hätten, wandte ich mich ab, als ob nichts geschehen wäre. Ich sagte mir,
dass dies der Lauf der Welt sei, und er war es auch.
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