Brautkleid billig zu verkaufen
Es war einmal ein junges hübsches Mädchen, das lernte eines Tages einen jungen hübschen Mann
kennen, und als sie sich genügend kennen gelernt hatten, verlobten sie sich. Es wurde tüchtig gefeiert,
Flaschenbier und Kartoffelsalat nahmen kein Ende, und das junge hübsche Mädchen baute alle Geschenke auf einer
Kommode auf, an der das weiße Laken bis zur Erde herabhing. Es war alles sehr nobel und üppig, und wie glücklich
die beiden waren! Unter den Geschenken befanden sich sechs Sammeltassen, drei Tortenheber, zwei Kissenbezüge und
ein Honigspender.
Im Laufe der Zeit kamen drei weitere Tassen hinzu, ein Büchsenöffner und ein Satz Eierbecher. Jetzt dachten die
jungen Leute ans Heiraten. Das junge hübsche Mädchen ließ sich ein Brautkleid anfertigen aus Satin. Die Schuhe
kosteten siebenunddreißig Mark und fünfzig Pfennig, bar bezahlt, und wohnen sollte das junge Paar vorerst bei den
Brauteltern.
Bis dahin ging alles glatt. Dann schaltete sich das Schicksal ein. Der Bräutigam wurde das Opfer eines
Verkehrsunfalls. Der junge hübsche Mann war einer der neunundsiebzig Toten, die der Verkehr in jenem Jahre in
unserer Stadt forderte. Statt zum Traualtar schritt das junge hübsche Mädchen zu einem Reihengrab und nahm sich
vor, Autos und derlei Zeug zu hassen.
Das Mädchen trauerte ein Jahr lang. Als das Jahr verflossen war, besaß es zwar einen Honigspender aus Glas und
Nickel, aber keinen Bräutigam aus Fleisch und Blut. Wie es so geht im Leben, kam auch nie wieder ein Mann, der das
Mädchen zu einem Spaziergang einlud und ihm seine Liebe gestand. Genau betrachtet war nicht der Bräutigam, sondern
die Braut das beklagenswerte Opfer des Verkehrstodes geworden.
Es soll hier nichts gegen Autos gesagt sein. Es gibt Männer, die haben vierzig Jahre hinter dem Lenkrad gesessen
und sind immer noch am Leben. Aber es ist auch nicht zu leugnen, dass der Bräutigam ohne den Straßenverkehr, der
im vorigen Jahr allein in unserer Stadt neunundsiebzig Menschenleben gekostet hat, heute glücklicher Vater und
vielleicht auch Mitglied eines Kleingärtnervereins wäre.
Wenden wir uns 'dem Mädchen «S. Das Mädchen lebt, es ist inzwischen jedoch weder jünger noch hübscher geworden.
Jahre sind seit dem Unfall vergangen. Der Kummer hat ihr Krähenfüße gemacht, und sie schaut die Welt durch die
Brille der Empörung an. Sie fährt niemals Auto. Die Sammeltassen und Tortenheber wer. den nicht verwendet, der
Büchsenöffner rostet in der Schublade, und der Honigspender erweist sich als Fehlkonstruktion. Es bleibt dabei,
dass eine einzige Sekunde unüberlegten Fahrens das Glück zweier Menschen zerstört hat
Eines Tages — es geschah beim Hausputz — erinnerte sich das Mädchen des Brautkleides, dass hinten im Schrank hing.
Wieder flössen Tränen, aber zu machen war nichts. Und nun sollte das Kleid weg. (Auch der Honigspender lag längst
im Müll.) Oft ist der Rest der Liebe bittere Prosa. In der Zeitung erschien eine Anzeige mit folgendem Text:
„Brautkleid, Satin, weiß, Größe 42, nie getragen, billig zu verkaufen."
Es war die traurigste Anzeige, die ich je gelesen habe.
Von Bernhard Schulz
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