Fritz Wolf ist ihr Star
Auf Spurensuche in Heintzmann’s Farbenkiste in der Stubenstraße
Hat Ludwig Heintzmann von Beginn an geplant, ein Geschäft, einen Laden, eine „Kiste“, wie er es
nannte, aufzubauen, um dem speziellen Bedarf der zahlreichen Kunstmaler zu dienen? Er selber malte nicht, aber er
liebte Bilder und sammelte Bilder und hatte die Kunstgewerbeschule in Hannover besucht. Welche Farben wünschten
sie, welche Pinsel, Kartons, Leinwand, und was noch?
In der Stubenstraße 7, im Herzen der Stadt Osnabrück, unweit von Rathaus und Dom bot er Ratschlag und Ware an – in
einer Firma, die er Heintzmann’s Farbenkiste nannte. Hereinspaziert, ihr Amateure, Hobbyisten und Kunstbeflissene,
ich helfe euch. Es sprach sich herum. Bald erhob sich die Farbenkiste zu einem Treffpunkt von Kunden, die beruflich
und nichtberuflich mit dem Bemühen zu tun hatten, Kunst zu schaffen, ob es nun Kunst war oder nicht. Kunst soll ja
nicht nur ernähren, sie soll vor allem erfreuen.
Machen wir einen Sprung. Der Krieg ist vorbei. Es fallen keine Bomben mehr. Die Löcher im Dach sind gedeckt, die
Fensterscheiben ersetzt. Und erwacht ist auch die Lust am Malen, am Gestalten, am Basteln. Wer früher gemalt hat,
malt auch jetzt wieder. Die Motive sind die alten, Dorflandschaften mit Kirchtürmen, Fachwerkhäuser, Windmühlen,
Wasserfälle, und Weiden mit Milchkühen. Die Bomben haben nicht alles vernichtet.
In Heintzmann’s Farbenkiste begegnen sie sich, die Maler mit den Milchkühen im Blick. Man ist davongekommen, man
lebt noch, man erinnert sich- und es darf gelacht werden. Sie besitzen ein Gespür für den Witz, den Humor, Narretei
in den Ereignissen des Alltags, und dieses Gespür entwässert den Trübsinn, der freilich auch ihnen gelegentlich
hochkommt.
Maria Heintzmann, die Witwe, ist jetzt die Seele des Geschäfts. Sie ist weltoffen und tolerant. Sie hätte einer
Lehrerin mit Kopftuch, vorausgesetzt es hätte sie schon gegeben, Farben und Pinsel verkauft und sie gefragt, ob sie
einen Kaffee will.
Maria strahlt immer gute Laune und Optimismus aus. Maria umarmt jeden, der einer Umarmung würdig ist. Seid nett
zueinander. Jaulen und Wehklagen bewirken keine Veränderung. In ihrer guten Stube, die über dem Laden liegt, bietet
sie Kaffee an. Die Kaffeemaschine bleibt stets in Gang und fördert das Gespräch. Hoch die Tassen.
In der Guten Stube hängen an den Wänden Ölbilder, Aquarelle und Federzeichnungen von Künstlern, die hier geweilt
haben. Es ist ein kleines privates Museum. Jedes dieser Bilder ist ein Beweis für Talent und für den Entschluss,
sich nicht unterkriegen zu lassen.
Bei Maria treffen sich die Schaufensterdekorateure, die Maler der Reklamen über dem Eingang zum Kino, die
Kunsterzieher in den Schulen, der Bühnenmaler des Stadttheaters mit seinen Gehilfen.
Ein Volk von Kunsthandwerkern, wohl eher ein „Völkchen“, das auf eine erhabene Weise der Kultur dient. Das
Lamentieren bringt nichts. Was ist wichtig genug, um es zu erwähnen? Dass es bei Leysieffer Torten gibt und bei
Hünefeld französischen Käse.
In der Farbenkiste gedeiht eine bekömmliche, wohltuende und hilfreiche Stimmung. Hitler hat sich selbst gerichtet.
Die Gestapo hat die Handschellen abgegeben. Auf den Märkten gibt es Kartoffeln, Bananen und Apfelsinen. Die
Engländer und Amerikaner haben uns vom Übel befreit. Wer Geburtstag feiert, summt „Happy Birthday“ vor sich
hin.
In dieses Idyll von Schwarzwälder Kirschtorte, Ölgemälden und Harfenklang passt Fritz Wolf wie der Korken auf die
Sektflasche. Er ist der Star, der Meister, die Numero Eins im Gehusche und Gewusel der Pinsel und Farbstifte.
Hallo, lieber Fritz. Auch er deckt in Heintzmann’s Farbenkiste seinen Bedarf an Material, das er für seine Arbeit
im Verlag der „Neuen Tagespost“ benötigt.
Beim Kaffee morgens haben wir uns bereits über seine Karikatur amüsiert. Sein Held ist Konrad Adenauer. Des
Rheinländers Mongolenschädel gelingt ihm akkurat und – liebevoll. Die Zeitung erntet mit Wolfs Karikaturen
bundesweit Ansehen und Beifall. eine Karikaturen ermuntern uns, die Welt nicht mehr so wichtig zu nehmen, wie wir
das getan haben. Was wir vordem ernst genommen haben, hatte sich als nicht stark genug erwiesen, um den Nazis zu
trotzen.
Die Karikaturen in der Zeitung schälen das politische Geschwafel ab wie Baumrinde. Wolfs Karikaturen erwecken in
uns den Entschluss zum Mitdenken, und das üben wir in Maria Heintzmann’s Guter Stube. Es duftet dort so gut nach
Ölfarbe, Terpentin und Doppelkorn. „Ein Glück, dass es Euch gibt“, sagt Maria.
Höhepunkte im Jahr sind in der Farbenkiste die Geburtstage. Sie werden mit einer Torte und auf der Torte mit dem
Namen des Freundes in Marzipanschrift gefeiert.
Am Abend des hl. Nikolaus bewirtet Maria die Kinder mit Gebäck. Fritz Wolf verkleidet sich als Nikolaus und hat
Spaß an seiner Rolle. Er mag Kinder.
An den Weihnachtstagen legt Maria Schallplatten auf. Alle Jahre wieder kommt das Christuskind. Und die Kinder sagen
Gedichte auf. Die kleine Sabine sagt: „Das ist ja gar nicht der heilige Nikolaus, das ist Onkel Wolf.“
Als wir sie fragen, wie sie das herausgefunden hat, antwortet sie: „An den Schuhen.“ Auf den Bildern, die sie
kannte, trägt St. Nikolaus mit Pelz gefütterte Stiefel, und Onkel Wolf leistete sich Budapester Schuhe. „Du bist
ein kluges Kind“, sagt Fritz, „gib mir einen Kuss.“
An den Kuss hängt Sabine eine Bitte: „Spiel doch noch einmal Caruso.“ Caruso ist Fritz Wolfs erfolgreichste Nummer.
Er hat, wie seine Frau weiß, eine Vorliebe für die italienische Sprache. An Caruso, dem vergötterten Tenor, reizt
ihn die bis ins Lächerliche gesteigerte Theatralik.
Mit seiner rabauzenden, gepflegt angerosteten Stimme schmettert er Arien zur Decke empor. Die Melodien hat er im
Kopf. Den Text entlehnt er der Speisekarte eines Ristorante. Was da in Marias Guter Stube erschallt, sind die
gastronomischen Vokabeln für Lammfleisch, Putenbrust, Eisbein, Pizza Rustica, Tiramisu, Chianti, Lambrusco und rote
Grütze.
Niemand versteht ein Wort, und es soll auch niemand etwas verstehen. Spaghetti Napoli, Maccaroni Bolognese und Nasi
Goreng zerschmelzen zu einem einzigartigen Salat der Töne. Molto bene, lieber Fritz.
Mit den Jahren wird er still und stiller. Kein Weihnachtsmann und kein Caruso mehr. Es ist, als ahnte er, was uns
allen bevorsteht. Wann sehen wir uns wieder? Aber darauf gibt es keine Antwort.
Bernhard Schulz
Bernhards absolut letztes Manuskript (MS),verfasst am 10.10.2002
(„Jetzt rühr’ ich die Schreibmaschine nicht mehr an“).
08.12.1951 Neue Tagespost
|