Hofkonzert
Leierkastenmänner leben noch.
Gestern zog einer mit seiner Orgel durch unsere Stadt. Es war ein
alter Mann. Er trug eine braune Sammetjoppe und einen schwarzen Schlapphut, wie es sich für Künstler gehört, und
er sah haargenau so aus, wie Leierkastenmänner in Bilderbüchern aussehen. Drehorgelmänner sind letzte Jünger der
Romantik. Sie halten den Idealismus hoch, Sie verzichten auf den Komfort der Neuzeit und machen das
Rennen nach Totogewinnen und Umsatzquoten nicht mit. Sie haben ihre Orgel, basta.
Sie dudeln den Leuten etwas vor und schwenken ihren Schlapphut. Ihr Lohn besteht aus Pfennigen. Hie und da
fällt, in Zeitungspapier gehüllt, ein Groschen aus dem Fenster. Drehorgelmänner können keine Nabobs werden. Sie bringen es nicht einmal zu einer
motorisierten Orgel. Von Industrialisierung und public relation haben sie keine Ahnung. In der Orgel steckt
Musik, aber kein Wirtschaftswunder. Mehr als Musik darf niemand von einem Leierkasten erwarten. Er steht auf
Rädern, und das Ganze sieht aus wie ein altmodischer Kinderwagen. Früher führten die Leierkastenmänner Affen
mit, die in ihrem roten Wams zum Leierton der Melodie artige Sprünge zum
Besten gaben. Das ist vorbei. Entweder haben es die Orgelmänner oder die Affen aufgegeben. Mag sein, dass heute
kein Herbergsvater mehr einen Mann mit Affen aufnehmen will. Oder der Tierschutz hat sich eingemischt.
Nun ist es keineswegs so, dass die Drehorgelmänner dem musikalischen Fortschritt
abhold wären. Nur, dass es eben nicht aus dem Lautsprecher tönt, sondern aus der Walze quillt. Von der gelben
Rose in Texas bis zum brennendheißen Wüstensand enthält das Repertoire alles, was vom Tage ist Gegen
Straßenmusik mag einer sagen, was er will. Wenn der Kasten zu quietschen und zu seufzen beginnt, dann fließen
Tränen. Dann kehrt Sehnsucht ein in unser Herz. Dann wird Hoffnung wach in unserer Brust. Drehorgelklang
bedeutet Sonnenschein und gute Laune und kleine Pause im Alltag. Drehorgelklang ist Nahrung für die Liebe und
für das nachbarliche Einvernehmen. Drehorgelklang ist mehr als Straßenmusik es Ist Erinnerung und Hoffnung und
Aufatmen und alles miteinander.
WAZ, 2.12.58
Bernhard Schulz
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