Der kleine Mann
Er ging am Stock. Ich habe ihn nie ohne diesen Stock das Haus verlast en gesehen, ging oft aus
dem Hause. Ich glaube, dass er zum Skatspielen ging, oder in seinen Briefmarkensammelverein, oder einfach nur, um
an der Theke zu stehen und mit dem Wirt ein Gespräch über Garten» Schädlinge zu führen und über das Thema, ob man
den Maulwurf fangen und das bisschen Fell gerben lassen soll, Er wollte sich einen Mantel innen mit Maulwurfsfell
füttern lassen.
„Wie`n Baron, was? "
"Kennst du einen?"
"Nein", sagte der Wirt.
Er ist nie dazu gekommen, sich diesen Mantel bauen zu lassen. Er trug, wenn er überhaupt einen Mantel benötigte,
einen grauen Paletot mit einem Kragen aus Plüsch. Und beim Gehen setzte er die Stockspitze klirrend aufs Pflaster,
sodass sie ihn in der Kneipe schon von weitem hören konnten.
Er war ein kleiner Mann. Kein Gardemass. Ganz und gar kein Baron, und er hatte auch nicht die geringste Chance,
jemals einer zu werden. Angestellter, weiter nichts. Er trug Zahlen ein und addierte kleine Summen. Er las Bücher,
und einmal hatte er sogar ein Theater besucht, um sich eine Operette anzusehen. Er kannte drei Melodien, die er an
jenem Abend gehört hatte. Es war auf einer Verbandstagung der Sparkassenangestellten gewesen. Nach der Vor«
Stellung hatte er in einem Hotel geschlafen, zum ersten Mal in seinem Leben, auf Spesen, und er hatte sich vom
Hausdiener die Stiefel putzen lassen.
Er wohnte mit seiner Frau zur Miete. Zur Wohnung rechnete ein Garten mit drei Apfelbäumen und
einem Kirschbaum. Ihm selbst gehörte nichts. Er war nie soweit gekommen, sich etwas anschaffen zu können. Als er
achtzehn wurde, hatten sie ihn gemustert und eingezogen. Für Gott, Kaiser und Vaterland. Er hatte es im Laufe der
Kriegsjahre in der Bedienungsmannschaft eines Maschinengewehrs vom Schützen Drei, der die Munition schleppen
musste, bis zum Schützen Eins gebracht, der den Feind aufs Visier nahm.
Sie gaben ihm einen Orden dafür, den er in einer Zigarrenkiste aufbewahrte, zusammen mit einer
Tabakspfeife aus Meerschaum, die ihm ein Vetter geschickt hatte, der nach Brasilien ausgewandert war. Die Pfeife
war zerbrochen angekommen und er hatte nie versucht, sie reparieren zu lassen kein Haus, kein Geschäft, kein
Grundstück, kein Vermögen, keine Aktie, kein Wertpapier, kein Ölgemälde, keine Jagd, keinen Fischgrund, kein Pferd,
keine Kuh, kein Auto. Er besaß nichts, außer diesem Orden und der zerbrochenen Meerschaumpfeife.
Er sehnte sich nach Freunden. Er stand in den Wirtshäusern herum und sagte, dass er bei Verdun
gelegen habe und irgendwo in Galizien. Er stand vor den Theken und rede te von einem großartigen Wintermantel, der
innen mit Maulwurfsfell gefüttert sein sollte.
"Wie'n Baron?"
"Wie`n Baron", wiederholte er arglos.
Einmal lachten sie über ihn, und vielleicht lachten sie deshalb, weil ein Baron ja niemals ein kleiner Mann ist.
Aber jemand sagte jetzt: "Er hat einem Menschen das Leben gerettet."
"Na, und?" fragten 3ie, "kommt e3 darauf an? Kommt es auf einen einzigen Menschen an?"
"Er ist aus dem Graben gestiegen", erzählte der Mann unbeirrt weiter, "und hat seinen Kompaniechef geholt. Er
hat einen Schwerverwundeten aus dem Feuer getragen. Huckback. Dabei hat er den linken Fuß verloren."
"Deshalb der Stock?"
"Deshalb der Stock", antwortete der Mann, "er braucht eine Stütze beim Gehen."
"Und was ist aus dem Kompaniechef geworden? Lebt er noch?"
„Na klar“, sagte der Mann, „ohne ihn wäre ich verblutet.“
Von Bernhard Schulz
6.Nov.1966
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