Der Wind kommt aus den Wäldern

Der Wind kommt aus den Wäldern

 

Woher kommt der Wind? Der Wind kommt aus den Wäldern, das ist meine Antwort. Der Wind bringt den Duft von modernden Pilzen und fauligem Laub mit. Der Waldboden ist im Wind zu schmecken, die Borke der Eichen und das Harz der Kiefern. Etwas tönt darin mit, das klingt nach Krähenschrei und Häherruf, nach Axtschlag und stürzendem Holz. Der Wind kennt das Geheimnis der Tiere und Waldgeister. Er weht heran aus der Tiefe der Wälder, in denen sich die Jäger und die Beerensammler auskennen. Die Rehe hausen dort, die Füchse, die Eichkater und die Schleiereulen.

Die Schleiereulen? Aber ja doch. Der Wind spricht mit Elfen und Kobolden, er ist befreundet mit Hexen und Zwergen, mit Schraten und anderen seltsamen Wesen, die zwischen Wurzel und Gipfel ihr Leben haben. Es ist ein frommer Wind, ein Märchenwind, ein Wind für Kinder. Der Wind, der Wind, das himmlische Kind.

Bevor der Wind in die Stadt gerät, fegt er eine Weile über die Äcker dahin. Er lädt sich den Geruch frischer Erde auf, den Duft der Heuwiesen und die würzige Zutat der reifenden Kornfelder. Er sättigt sich am Gesang der Vögel, am Gebell der Hunde und an der dampfenden Haut der Gäule, die den Erntewagen ziehen.

Auf der Straße geht ein Mann, der sich einsam glaubt unter dem grauen Himmel. Der Mann spricht laut vor sich hin, er sagt ein Gedicht auf, aber niemand hört ihm zu. Auch der Wind ist niemand. Der Wind wirbelt Staub auf und treibt Regen vor sich her. Er reißt Blätter ab und knickt Äste. Der Wind ist überall und nirgends.

Der Wind stiehlt sich durch Türritzen und rumort im Schornstein. Er faucht im Gebälk der Scheunen und kuschelt sich in die Dachböden der Bauernhäuser, wo es nach getrockneten Bohnen und wurmstichigen Truhen riecht. Er labt sich am warmen Dunst der Viehställe und am Gebrodel der Backstuben, Wurstküchen und Brauhäuser.

Ich liebe den Wind, der aus den Wäldern in die Stadt gebraust kommt. Er hat Erde und Wasser geschleckt. Er hat die Landstraße berührt, auf der das Postauto dahineilt, der Kastenwagen des Viehhändlers und das Auto des Dorfarztes. Aber er hat auch den Feldweg liebkost, den die Hebamme und der Hausierer benutzen, und die Pfade, auf denen die Schulkinder heimkehren mit ihren bunten Ranzen. Er hat den weißen Dampf der Lokomotive zerfetzt, die von Bahnhof zu Bahnhof unterwegs ist mit Stückgut und kleinen Leuten, die in der Stadt zu tun haben. Im Wind ist Gepingel zu hören und der rasselnde Lärm der Schranke, vor der die Radfahrer absteigen müssen.

Der Wind pumpt Wasser aus dem Boden, treibt Mühlen an und erzeugt elektrischen Strom. Er leiht sich aus an Segelschiffe und Flugzeuge, zaubert Buschwindröschen aus dem Waldboden und bläht die Hausfrauenwäsche an der Leine. Seine Stärke lässt sich ablesen an der Windrose und seine Richtung an der Windfahne, die sich auf dem Kirchturm dreht. Wer ein feines Ohr hat, hört im Wind die Töne der Drehorgel aus den Dörfern und den Knall der Büchsen beim Schützenfest. Die Fabriken lassen für die Mittagspause ihre Sirenen los, Schlepper tuten auf dem Kanal, und aus dem Steinbruch verkündet ein Trompetensignal, dass gesprengt wird.

Und dann der Klang der Glocken rundum. Der Wind ist voller Geläut. Es läutet, wenn gebetet und wenn gesungen wird. Es läutet zur Frühmesse und zum Abendmahl. Es läutet zur Überschwemmung und zur Feuersbrunst, zum Kirchweihfest und zum Wettstreit der Kirchenchöre. Immer sind Glocken im Wind. Auch die Stille tönt mit, eine Stille voller Poesie und Heimlichkeit. Der Atem der Ewigkeit ist darin. Es ist eine Stille, die nie beginnt und niemals endet.

Aufbruch 1987