Rotbraunes Kammgarn
Als Onkel Joseph, ein Bruder meiner Mutter, zur Schule ging, das war vor dem ersten Weltkrieg,
trugen die Jungens Kleidchen, und wenn es nicht bestimmte Merkmale gegeben hätte, dies zum Beispiel, daß die
Jungens kahl geschoren waren, indes die Mädchen Zöpfe trugen, wäre es schwer gewesen, Jungens und Mädchen
voneinander zu unterscheiden.
„Stellt euch vor", sagte Onkel Joseph, „ein Junge in einem Röckchen, welch eine Entwürdigung des
männlichen Charakters!"
Er konnte über dieses Thema stundenlang reden, und der Grund seiner Entrüstung war der, daß es
nicht einmal neue Kleidchen gewesen waren, die man ihm gab, sondern daß sie aus den abgelegten Kleidern der älteren
Schwester geschneidert wurden, und diese ältere Schwester war meine Mutter.
„Wenn du mich nicht in Kleidchen gesteckt hättest", sagte Onkel Joseph, „wäre ich vielleicht ein
berühmter Jagdflieger geworden, und was bin ich heute? Uhrmacher und Devotionalienhändler."
Und daran trug meine Mutter nun gewissermaßen die Schuld.
Gelegentlich zog er eine speckige Fotografie aus der Brieftasche, ein Klassenfoto, auf dem
Jungens in Kleidchen zu sehen waren, drei Reihen Kleidchenjungens hintereinander, jene jungen Männer, die zehn
Jahre später auf den Schlachtfeldern im Westen den Tod fanden.
„Das Schlimmste war", fing der Onkel von neuem an, „daß ich deine alten Klamotten auftragen
mußte und daß du nichts unternommen hast, um es zu verhindern." Er zeigte mit dem Finger auf meine Mutter, als
wollte er sie durchbohren. ”Ich sehnte mich nach nichts so sehr wie nach einer Hose. Aber die Hose gab es erst am
Tag der Schulentlassung."
„Es waren eben andere Zeiten", sagte meine Mutter und goß dem kleinen Bruder einen Schnaps
ein.
Was mich selbst betrifft, so kann ich mich an folgendes erinnern. Ich trug Hosen, die
Kleidchenzeit war vorbei, aber meine Hosen wurden aus alten Anzügen meines Vaters angefertigt. Abgesehen vom
„Gesang- und Gebetbuch für den gläubigen Christen" ist für mich nie etwas wirklich Neues angeschafft worden.
Wenn ich einen Anzug haben sollte, kam eine Näherin ins Haus, die mit Fräulein Anna angesprochen
wurde und Stundenlohn erhielt. Es war ein großer Tag, auf den sich meine Mutter umständlich vorbereitete; denn wenn
Fräulein Anna kam, mußte immer „etwas Gutes auf den Tisch kommen", und die schlichte Voraussetzung für den
reibungslosen Ablauf der Näharbeiten war Bohnenkaffee mit Sahne und Zucker, der stündlich serviert werden
mußte.
In der guten Stube, in der das Sofa stand und der Schrank mit dem Sonntagsporzellan, wurde die
Nähmaschine ans Fenster gerückt. Weil Fräulein Anna eine zierliche kleine Person war, die „ihre Eigenheiten hat",
wie meine Mutter behauptete, wurde ihr ein Kissen auf den Stuhl gelegt, und dieses Kissen tauschte sie manchmal
gegen ein anderes Kissen aus. Es war eben alles doch nicht so einfach, wie es aussah.
Nach dem Frühstück setzte sie sich dann auf ihr Kissen und fing an. Vaters verwetzter grauer
Anzug, den er fünfzehn Jahre getragen hatte, wurde aufgetrennt. An Hand von Schnittmustern, die Fräulein Anna
selbst entworfen hatte, entstand jetzt ein neuer Anzug.
Ich war als artiges Kind bekannt und hatte bei Fräulein Anna einen Stein im Bügelbrett. Ich
brachte ihr bei, daß der neue Anzug möglichst viele Taschen und sogar Geheimfächer haben müsse. Fräulein Anna ging
willig auf meine Wünsche ein. Einmal brachte sie es auf siebzehn Taschen in einem einzigen Anzug, und die Kunde
davon machte im Dorf die Runde, so daß es später mit anderen Müttern Schwierigkeiten gab, deren Söhne ebenfalls
Anzüge mit siebzehn Taschen haben wollten.
Die Näharbeiten nahmen gewöhnlich zwei Tage in Anspruch. Da ich den Anzug ja auch anprobieren
mußte, blieb ich an diesen Tagen der Schule fern.
„Mein Sohn konnte gestern und vorgestern nicht am Unterricht teilnehmen", schrieb mein Vater an
die Schule, „da derselbe an Durchfall erkrankt ist, und bitte ich, dieses zu entschuldigen."
Da ich an Durchfall erkrankt war, blieb ich zwei Tage neben der Nähmaschine sitzen, las in einem
Abenteuerbuch und beobachtete mit Interesse jeden Fortschritt an Fräulein Annas Meisterwerk.
Kein schöner Anzug, wahrhaftig nicht; er sah altherrenhaft und speckig aus, und aus irgendeinem
Grund reichten die Hosen bis zu halben Wade.
„Laß man", sagte Fräulein Ann mit einem Seitenblick auf mein Mutter, „in deinem Alter wächst man
schnell. Du wirst schon sehen im nächsten Jahr passen sie dir."
Ich war ein Bild modischen Jammers. Als ich den Anzug eine Zeit lang getragen hatte, begann ich
meine Mutter zu bitten, sie möge mir doch einen ungetragenen Anzugstoff kaufen, ich hätte kein Lust mehr, Vaters
alte Sachen aufzutragen.
Und tatsächlich, auf meinem Geburtstagstisch lag in Geschenkpapier gehüllt ein Stoffballen. Es
war rotbraunes Kammgarn, das ihr ein Hausierer angedreht hatte, wie sich später herausstellte.
Meine Freude dauerte jedod nicht lange. Der Stoffballen verschwand auf geheimnisvolle Weise, er
kam abhanden, und wenn meine Mutter die Näherin fragte, wann sie denn mal Zeit hätte, um etwa Neues für mich zu
schneidern, dann hatte Fräulein Anna Rheuma und dergleichen und kam einfach nich mehr dazu, tätig zu sein, zumal
sie jetzt auch schon Rente bezog. E blieb beim alten Anzug.
Meine Mutter machte mir klar, daß das Leben hart sei und Geldverdienen noch viel härter und daß
ich keine Ansprüche zu stellen hätte.
„Du bist der am besten angezogene Junge in der ganzen Gegend" sagte sie, „schau dir doch die
Jung! in deiner Klasse an! Geht Schneppers Klemens etwa in Samt und Seide?"
Den rotbraunen Kammgarnstoff der Ballen einszwanzig breit unc drei Meter in der Länge, sah der
am besten angezogene Junge in die ganzen Gegend unter dem Weihnachtsbaum wieder; er war eine Überraschung vom
Christkind. Aber auch diesmal verschwand der Stoffballen, kurz nach dem Dreikönigsfest, und wieder einmal war ich
derjenige, der überhaupt keine Ansprüche zu stellen hatte.
„Junge, was verlangst du nur", sagte meine Mutter, „so tadellos wie du ist kein Junge in deiner
Klasse angezogen."
Ich sah an mir hinab und stellte dabei fest, daß ich in die Hosen wenigstens einigermaßen
hineingewachsen war.
Ich gebe zu, daß ich kein Musterschüler war und daß es keinen vernünftigen Grund gab, aus mir
einen Modegecken zu machen. Tuch, das mein Vater, der stillduldende Ernährer einer großen Familie, getragen hatte,
war wohl auch für mich gut genug.
Dem Ballen rotbraunen Tuchs begegnete ich noch oft, an zahlreichen Geburtstagsfeiern und an
mehreren Heiligen Abenden, und immer dann, wenn meine Eltern beschlossen hatten, mir eine Überraschung zu
bereiten.
„Es wäre zu schade, den schönen Stoff zu verschneiden", sagte meine Schwester Irmgard, und ich
erfuhr später auch, warum sie es gesagt hatte.
Als ich Soldat wurde und das Kleid der Ehre verpaßt bekam, hätte ich gerne verzichtet, und ich
wäre auch bereit gewesen, weiterhin mit Löchern in der Hose umherzulaufen, aber da halfen keine Nadelstiche und
kein Klappern mit der Schere. Der Humor fügte es, daß meine Schwester mich eines Sonntagnachmittags in der Kaserne
besuchte. Es war Besuchszeit, aber da ich dem Spieß aufgefallen war wegen irgendeines Stäubchens, das in meinem
Gewehrlauf zu erkennen gewesen war, reihte ich mich gerade in ein Kommando ein, das den Sonntagnachmittag mit
Kartoffelschälen verbringen sollte.
Meine Schwester durfte mich bäuchlings über den Kasernenhof robben sehen, wobei ich ein
fröhliches Lied zum besten gab. Meine Schwester hatte so etwas noch nie gesehen, und ich hatte es mir auch nicht
träumen lassen. Und da stand sie nun, empört und schön, und sie trug ein Kostüm aus rotbraunem Kammbarn.
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