Mutters Reise nach Borkum   1963

Das junge Fräulein, das bei meinem Friseur in der Kunst unterrichtet wurde, Männern die Wange zu schaben und das Haar zu waschen, war nicht da. "Nanu", sagte ich. Der Meister antwortete: "Fräulein Helga verbringt zurzeit ihren Urlaub in Spanien, und nicht einmal an der Costa Brava, wo sich die gesamte Bundesrepublik aufhält, sondern in Valencia."
"Und wie ist Fräulein Helga dort hingekommen?" fragte ich. "Mit dem Auto. Die Dame hat ihren Führerschein gemacht. Die hat Mut, was?"
Die hat Mut, sagte der Meister, der Spanien nie gesehen hat, und dieses Wort lässt mich schon seit Wochen nicht mehr ruhen. Inzwischen ist Fräulein Helga zurückgekehrt. Braun und spanisch und ohne den geringsten Kratzer an ihrem Kleinwagen. Sie hat Kastagnetten klappern gehört und Stierkämpfe gesehen. Sie hat Tintenfisch gegessen und Vino Tinto getrunken. Sie kann "Muchas gracias" und "hasta la vista" sagen. Kurz, Fräulein Helga kann mitreden, wenn Spanien auf den Tisch kommt. Im nächsten Jahr will sie nach Finnland fahren oder vielleicht nach Bulgarien. "Mal sehen", sagt Fräulein Helga.
So ist das heutzutage mit den jungen Damen, die uns alte Knaben rasieren. Sie stehen vollkommen ihren Mann. Weder Grenzen erschrecken sie noch Reifenpannen, und irgendwo in ihrer Kleidung halten sie ganz sicher ein feststehendes Messer zur sofortigen Selbsthilfe bereit. Wie sollen wir Männer uns zu dieser Entwicklung einstellen? Müssen wir nicht dann und wann doch ein mahnendes Wort an unsere Damen richten? Stierkämpfe und Pyrenäenpässe - geht das nicht zu weit, zu weit für ein Fräulein, das eben erst neunzehn Jahre alt geworden ist? Und überhaupt, wo soll das enden?
Aber in einer Zeit, in der schon von Weltraumfahrt die Rede ist und Menschen im All umherkreisen, ist es wohl auch angebracht, dass unsere Töchter ans Schwarze Meer fahren; denn der Weg zum Schwarzen Meer ist noch nicht einmal das Millionstel einer Mondreise. Mein Vater ist, außer zu kriegerischem Einsatz, in seinem ganzen Leben nicht aus dem Dorf hinausgekommen, in dem er geboren wurde. Ihm genügt es, während des Urlaubs unter einem Apfelbaum zu sitzen und Walter Scott zu lesen, und bei Regenwetter spielte er Skat mit Männern, denen es ebenfalls nichts ausmachte, daheim zu sein, und die nicht einmal Walter Scott kannten.
Meine Mutter hat nur ein einziges Mal in ihrem Leben eine Reise gemacht. Nach Borkum. Sie sollte dort von einer überstandenen Krankheit ausruhen. Dazu gehören die Überredungskünste aller Dorfbewohner, beim Milchmann angefangen bis zum Seelsorger, sie zu dieser Erholungskur zu bewegen. Die Vorbereitungen erstreckten sich über Monate.
Der Witz ihrer Vorbereitungen gipfelte in einem Plakat aus dicker Pappe, das unser Anstreicher Meister anfertigte und über der Küchenbank an die Wand nagelte. Darauf stand:

VERGESST NICHT
zu beten
die Zähne zu putzen
die Füße zu waschen
die Blumen zu begießen
die Hühner zu füttern
die Schulaufgaben zu machen

Unter diesen Ermahnungen, die uns geläufig waren, stand ein Spruch, den meine Mutter über alles liebte und ihren sechs Kindern täglich ins Gewissen sprach: „Bewahret einander vor Herzeleid; denn kurz ist die Zeit, wo ihr beisammen seid." Um diesen Spruch hatte der Anstreicher Meister eine Ranke aus roten und weißen Rosen gemalt.
Bevor meine Mutter die Reise nach Borkum antrat, hatte sie alle ihre irdischen Angelegenheiten geordnet. Sie hinterließ sogar ein in zierlicher Schrift verfasstes Kochbuch, das für jeden Tag ihrer Abwesenheit einen aufs Gramm berechneten Speisezettel enthielt. Es gab am Bahnhof einen Abschied mit heißen Tränen und nicht endenden Beschwörungen, dass wir alle gesund bleiben und der Tante keine Schwierigkeiten bereiten sollten.
Wir verursachten der armen Tante, die den Haushalt führen sollte, selbstverständlich eine Menge Ärger, was ohnehin jeder vorausgesehen hatte. Mein Bruder fing als erster an, das Beten aufzugeben und die Zähne zu vernachlässigen. Er war mehr für Rauchen im Walde und Jagd auf Eichhörnchen und dergleichen. Und die Mädchen wollten plötzlich nicht mehr abtrocknen...
Nach drei Tagen war Mutter wieder da. Sie hatte ihren Koffer gar nicht erst ausgepackt. "Ihr wascht eure Füße ja doch nicht", sagte sie. Und weiter wurde kein Wort mehr über Mutters Reise nach Borkum gesprochen.