Bilder im November
18.1.1956
Tage voller Schwermut und Einsamkeit. In den Gärten plustert sich die Amsel. Sanft weint der
Regen in die Dämmerung. Schnee fällt und erlischt auf den Dächern. Durch die Türritzen faucht der Wind. Letztes
Erinnern an Weihnachtskerzenglanz und Orgelmusik. Auf den Straßen lie gen Lamettafäden. Rote und silberne
Scherben von Christbaumglas. Der Himmel hängt bleigrau über der Landschaft. Der Wind presst den Schornsteinrauch
in die Straßen.
Der Wind bringt auch den Schrei der Lokomotiven mit, den Sirenenruf der Fabriken, den Bremsschrei der Kraftwagen
und den Signal Ton eiliger Taxen. Der Januar ist der Monat der Vereinsbälle und Stiftungsfeste.
Jetzt am Ofen sitzen und in einem Bauernkalender blättern. Oder in der Zeitung den Anzeigenteil lesen. Jemand ist
gestorben, mit dem wir zur Schule gegangen sind. Eisblumen schmücken die Fenster. Ein Mann geht mit Ohrenklappen
und Fausthandschuhen hinter einem Hund her. Weißer Nebel dampft von den Mündern. Auf den Dörfern lastet das graue
Schweigen des Winters.
In den Wäldern ziehen die Pferde gefällte Baumstämme durch den verharschten Schnee. Unter ihren Hufen fetzt die
Walderde rot und blättrig auf. Rehe tippeln durch den Tann, und ein Fuchs späht nach dem Hühnerstall.
Die Bäume sind so kahl. An den schwarzen Ästen krustet Regenwasser. Manchmal kommt Frost und überzieht die Pfützen
mit hauchdünnem Eis, das unter den Autoreifen silbern splittert. Die Kälte beißt an den Ohren. Nasse Kälte,
fressender Wind, zehrende Traurigkeit, das haben wir jetzt.
An solchen Tagen tut heißer Kaffe gut. Kaffee mit Rum oder mit Schwarzwälder Kirschwasser. In den Kirchen knien die
Kinder vor dem Stall von Bethlehem. Auf einer Wiese aus grüner Holzwolle weiden Gipsschafe. Ein Hirtenknabe spielt
auf dem Dudelsack und ein Engel spricht Latein. Aber die Stille ist so eindringlich, dass die Nüsse in den
Hosentaschen der Buben zu hören sind.
In einer Dachkammer sitzt ein Mann über einen Globus gebeugt und schaut auf Alaska. Er weiß, dass in dieser Stunde
Schiffe unterwegs sind, Flugzeuge und Eisenbahnen. Unter den Fingerkuppen dreht sich die kleine bunte Kugel...
Länder. Meere. Völker. Licht. Finsternis. Der Mann sagt Worte vor sich hin wie „Lusitanien" und
„Weihrauchstraße".
Ein Käuzchen schreit. Die Furcht geht um. Vor einer Truhe knien und alte Gewänder
auskramen. Mit den Händen die brokatenen Ballschuhe einer Frau streicheln, deren
Bildnis noch in der Erinnerung schwebt. Einen Fächer aufklappen und Worte lesen
wie diese: Ich erwarte Dich morgen Nachmittag. Kommst Du?"
Erwarten wir jemanden? Ich weiß es nicht. Aber es ist schön, mit einem Mädchen verabredet zu sein, das Schihosen
trägt und durch den Schnee stapft und uns in einer Bauernwirtschaft zu Schinkenbrot und Milch überredet. Auf dem
Heimweg leuchtet uns rubinrote Wintersonne. Wildgänse schreien am Himmel. Eine Maschine hört auf zu dreschen.
Strohduft wölkt über die Straße.
In der Ferne blitzen die Lichter der großen Stadt mit ihren Straßenbahnen, Häusern und Autos. Violettrotes
Geleucht kriecht am Horizont. In einem Konzertsaal neigt sich eine Sängerin über einen Nelkenstrauß, be ; vor sie
zu singen anhebt.
Krähen pflügen den Himmel auf. Ein Mann \ fragt nach dem Weg. Vielleicht bekommen wir morgen Tauwetter.
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