Freuden auf dem Balkon

Der Balkon, der winterlang nur vom Mülleimer und anderen prosaischen Dingen beherrscht war, ist in den Vordergrund unseres Feierabends gerückt. Auf dem Balkon zu sitzen hat den Vorzug, dass wir mit einem Bein draußen und mit dem anderen Bein drinnen sind. Der Balkon ist Wohnung und Garten zugleich.

Wir brauchen nicht erst die Straßen­bahn zu bemühen, um in Gottes freier Natur zu weilen, das ist die Sache. Außerdem darf der Schritt ins Freie hier ohne Etikette erfolgen. Dem Bal­kon ist es gleichgültig, ob wir Pantof­fel tragen oder, was noch schlimmer wäre, Hosenträger. Der Balkon ge­hört uns; niemand hat das Recht, uns Saloppheit vorzuwerfen. Auf dem Bal­kon sind wir endlich allein, versteckt hinter Kapuzinerkresse und Stiefmüt­terchen, üppig wuchert das Grün aus den Kästen.

Freuden auf dem Balkon


 

Zeichnung: Fritz Wolf

 

Der Mensch liegt da, gemächlich dem Nichtstun hingegeben und lauscht und schaut in den dunkelnden Abend hin­aus. Er ist vom Nachbarn links und rechts durch Mauern getrennt, zumin­dest jedoch durch Markisen. Man hört sich zwar, aber man sieht sich nicht, und das ist angenehm.

Alle Geräusche sind gedämpft um diese Stunde. Es ist fast, als seien auch die lautesten Zeitgenossen von dem Wunsch beseelt, verträglich zu sein. Süßer Frieden weitet die Brust, das Radio schweigt, und im Garten flötet eine späte Amsel.

Ach, da rasselt das Telefon, dieser Multiplikator der menschlichen Un­ruhe, aber auch das kann uns nichts anhaben. Zweifellos handelt es sich ohnehin um einen Anruf aus Liebe: „Sehen wir uns noch, Liebling? Fein, ich habe übrigens eine Überraschung. Küsschen."

Derartige Mitteilungen liegen in der Luft um diese Zeit. Die Atmosphäre ist aufgeladen mit Sehnsucht.

Im Dachgeschoss fängt Frau Müller an, ihre Küche aufzuräumen. Frau Müller hat nachmittags Visite veran­staltet. Die Damen haben vorhin das Haus verlassen. Es macht Vergnügen, darüber nachzudenken, was die Damen sich erzählt haben. Die Preise. Meiers Gretchen, Die Qualität des Kaffees. Die Mode. Der Film. Die Ehen der anderen.

Von oben herab klingeln silberne Bestecke aus Frau Müllers Küche. Eine Tür wird zugeschlagen. Eine Katze faucht im Garten. Ein Bad wird ein­gelassen. Jemand singt. Eine Standuhr hämmert mit Gongtönen Zwanziguhr mitteleuropäischer Zeit ab. Aber dies alles sind sanfte, unaufdringliche Ge­räusche, sozusagen Klopfzeichen des Lebens. Es ist die polyphone Musik eines Sommerabends. die unsere Ner­ven viel eher beruhigt als zerreißt.

Vergessen wir nicht, die Abendluft zu preisen. Sie ist noch warm von der Tageshitze; weich fließt sie durch die geöffneten Fenster und lässt in den Zimmern den Duft von Gartenerde zu­rück, von Blumen und gemähtem Ra­sen. In den Fliederduft mischt sich von der Tankstelle her der Geruch von Benzin, dieser erregenden Ausdün­stung merkantiler Erfolge.

Der Mensch dehnt sich in seinem Liegestuhl und schließt die Augen. Er entspannt sich. Er vergisst Er träumt. Er lächelt. Er baut seinen Kummer ab. Er ist allein. Er ist einsam. Er ist glücklich.

Jetzt ein Glas Wein trinken oder eine Apfelsine schälen. Öder mit den Hän­den einen Steinkrug voll Bier berüh­ren. Wenn er müde ist, dann steht das Bett ganz in der Nähe, gleich hinter der Tür.

Plötzlich weiß der Mensch, dass er sich auf diese Abendstunde auf dem Balkon gefreut hat, immer schon . . .


Diese Kurzgeschichte wurde dem Buch "Der Löwenzahn zermalmt nicht die Kesselpauke" entnommen. Sie können das Buch hier kaufen.