Für Eisenhower waren die Deutschen Bestien
Vom Hungern und Sterben ehemaliger Soldaten der Wehrmacht in amerikanischen und französischen
Lagern / Von Karl-Heinz Janßen
DIE ZEIT 8.
Dezember 1989
Er stand plötzlich vor der Tür, der Vermißte. Kaum wiederzuerkennen, mit tiefen Augenhöhlen, die abgewetzten
Uniformkleider schlottern um die Glieder. Der Heimkehrer, im Dorf bekannt als bärenstarker Mann, 1 80 groß, wog
keine hundert Pfund mehr. Daß er überhaupt noch lebte, hatte er den Engländern zu verdanken, die ihn im Juni 1945
aus dem amerikanischen Massencamp Rheinberg übernommen hatten, einem der berüchtigten Hungerlager auf den
Rheinwiesen und feldern, wo die Amerikaner nach der Kapitulation der deutschen Ruhrarmee Hunderttausende von
Kriegsgefangenen auf freiem Feld hinter Stacheldraht eingepfercht hatten. Was unser Heimkehrer zu berichten hatte,
kehrt in Tausenden anderer Berichte wieder: Tagelang gab es nichts zu essen, allenfalls mal einen Teelöffel
Milchpulver. Nach Wasser mußten die vom Durst Gequälten stundenlang anstehen. Gegen Frost und Wind, Schnee und
Regen schützten sich die Männer notdürftig, indem sie sich Erdlöcher buddelten, in denen sie sich nachts, eng
umschlungen, aneinander zu wärmen suchten. Wer einen Pappdeckel als Unterlage hatte, konnte froh sein. Täglich
fielen Leute vor Erschöpfung um, andere wurden in zusammenstürzenden Höhlen verschüttet, manche starben an Ruhr und
Typhus, weil sie aus Pfützen getrunken hatten, oder an Lungenentzündung "Nie hätte ich den Siegern eine solche
barbarische Art der KriegsgefangenenBehandlung zugetraut", notierte sich ein Feldwebel.
Warum haben wir in all den Jahrzehnten nach dem Kriege so viele Bücher und auch Filme über das Leiden der
deutschen Gefangenen in der Sowjetunion
kennengelernt, aber kaum etwas über das Kriegsverbrechen der Amerikaner an den ihnen anvertrauten Gefangenen
erfahren, ein Verbrechen, dessen Ausmaß offensichtlich bisher von deutschen Historikern noch gar nicht erkannt
worden ist. Aufgerührt hat diese unschönen Erinnerungen das Buch eines kanadischen Journalisten, das in Amerika als
Bestseller gehandelt wird, wohl weil es den Mythos des Kriegshelden und späteren Präsidenten Dwight D. Eisenhower ins Wanken bringt:
Deutsche Kriegsgefangene in amerikanischen und französischen Lagern 1945 1946; Ullstein Verlag, FrankfurtBerlin 1989; 302 S,
39 80 DM Der Titel des kanadischen Originals heißt schlicht "Other Losses". So lautete eine Rubrik in den
wöchentlichen amerikanischen Armeestatistiken. Ihren Sinn konnte Bacque erst nach langwierigen Recherchen
entschlüsseln, als er einem amerikanischen Obersten begegnete, der im Obersten Alliierten Hauptquartier (SHAEF)
deutsche Angelegenheiten bearbeitet hatte. Dieser Oberst Philip Lauben brach das Schweigen: "Sonstige Verluste? Das
bedeutet Todesfälle und Fälle von Flucht " Aber geflohen sind weniger als 0 1 Prozent, und wer durch den
Stacheldraht kletterte, riskierte, gnadenlos von den Wachposten niedergeschossen zu werden.
Bacque, studierter Historiker, deckte ein Geheimnis auf, das die amerikanische Armee bereits im Frühjahr 1945
unter der Decke zu halten wußte: das — wenn nicht von höchsten Stellen gewollte, so doch geduldete — Massensterben
in amerikanischen und französischen Lagern. Er wagte sich unbefangen an das Thema, denn anders als der große Bruder
hatten Kanadier und Engländer nach der deutschen Kapitulation ihre Gefangenen relativ gut behandelt. Doch viele
Lagerakten waren bereits vernichtet worden, und in den wenigen noch vorhandenen Dokumenten stellten Bacque und
seine Mitarbeiterinnen Zahlenmanipulationen, Verfälschungen, Halbwahrheiten oder Euphemismen sonder Zahl fest.
Unter Deutschen pflegte man bislang eine von der Sieger- und Schutzmacht Amerika übernommene Lesart: Die
Alliierten waren bei Kriegsende einfach überfordert, als sie viele Millionen ehemaliger Soldaten der Wehrmacht und
anderer Organisationen zu versorgen hatten, in einem Land mit zerstörten Dörfern und Städten und mit
zusammengebrochener Verwaltung, ohne genügend Transportmittel und Proviantvorräte. Bacque räumt mit dieser
Beschwichtigungslegende auf: "Zelte, Lebensmittel, Stacheldraht und Medikamente waren knapp in den Lagern — nicht,
weil es der Armee an Vorräten mangelte, sondern weil den Bitten um Lieferungen nicht nachgegangen wurde Am 22.
April 1945 hatte die amerikanische Armee in Europa
Nahrungsrationen für fünfzig Tage auf Lager, mit denen sie fünf Millionen Menschen mit 4000 Kalorien pro Tag hätte
ernähren können; es mußten aber nur 2 6 Millionen US Soldaten versorgt werden. Außerdem waren den Siegern
vollgefüllte deutsche Depots in die Hände gefallen. Das Rote Kreuz verfügte über dreizehn Millionen
Lebensmittelpakete, von denen jedes einen Menschen einen Monat mit 500 Kalorien pro Tag hätte ernähren können.
Bacque kommt angesichts dieses Mißverhältnisses — dort eine siegreiche Armee im Überfluß, hier Millionen
hungernder Gefangener — zu dem Schluß, daß dieses Massenelend gewollt war. Hier waltete der Geist des
Morgenthauplans, hier wurde an den Deutschen die Rache für Dachau und Buchenwald vollzogen.
Aus Churchills Memoiren und den alliierten Dokumenteneditionen kennen wir längst die makabren Szenen bei den
Gipfelkonferenzen in Teheran und Jalta, als Stalin und
Roosevelt auf die Erschießung von 50 000 deutschen Offizieren anstoßen wollten — angeblich nur zum Scherz! In
diesem Buch nun finden wir Zitate des amerikanischen Oberkommandierenden in Afrika und Europa, die jenen Aussagen in nichts nachstehen. Schon
im Mai 1943, als 300 000 deutsche Soldaten in Tunis kapituliert hatten und die amerikanischen Truppen ihrer nicht
sofort Herr werden konnten, schrieb General Eisenhower an den Generalstabschef und späteren Außenminister George
Marshall: "Ein Jammer, daß wir nicht mehr umgebracht haben In mehreren Ausgaben der Eisenhower Dokumente wurde, wie
Bacque feststellte, dieses Postskriptum unterschlagen.
Eisenhowers Haß gegen die Deutschen — für ihn lauter Bestien — steigerte sich von Monat zu Monat. Im Sommer
1944, nach der Invasion in der Normandie, war er dafür, die 3500 deutschen Generalstäbler auszurotten und alle
Naziführer — vom Bürgermeister an — zu erschießen. Am Ende schämte er sich seines deutschen Namens. In den
fünfziger Jahren kostete es den damaligen NatoOberbefehlshaber große Überwindung, den deutschen Soldaten, die man
so dringend für die Wiederaufrüstung brauchte, eine Ehrenerklärung auszustellen.
Bacque hält — neben einer Reihe mitwissender hoher Offiziere — General Eisenhower für den Hauptschuldigen am
Massensterben der deutschen Kriegsgefangenen. Eisenhower hatte im März 1945 den Vereinigten Stabschefs in
Washington empfohlen, wegen der bei einer bedingungslosen Kapitulation Deutschlands zu erwartenden Probleme eine
neue Klasse von Gefangenen einzuführen, die "Entwaffneten Feindlichen Streitkräfte" (Disarmed Enemy Forces —
DEF).
Nach der Genfer Konvention hatte jeder Gefangene Anspruch auf die gleiche Essensration wie ein Soldat der
feindlichen Armee. Als der deutsche Staat zu existieren aufhörte, gingen aber die Deutschen zeitweilig des Schutzes
der Genfer Konvention verlustig, denn Amerika entließ die anstelle des Deutschen Reiches als Schutzmacht
eingesetzte Schweiz aus ihren Verpflichtungen. Eisenhower ließ sogar den Delegierten des Internationalen Roten
Kreuzes den Zutritt zu den Lagern verbieten.
Die Stabschefs genehmigten am 26. April 1945 Eisenhowers DEF Plan, untersagten ihm jedoch eine öffentliche
Erklärung zu der Statusänderung. Sie müssen gewußt haben, warum. Bacque nennt den DEF Status "tödlich". Ihr
Gewissen beschwichtigten die Generäle mit der Tatsache, daß die alliierten Militärregierungen die Rationen für die
Zivilbevölkerung auf täglich 1500 Kalorien festlegen wollten. Nur — viele Gefangene erhielten manchmal noch weniger
als die KZ Häftlinge in der Endphase des Todeslagers Belsen. Und oft bis zu sieben Tagen keinen einzigen Bissen!
Eisenhower war es auch, der anordnete, daß den Gefangenen in den riesigen, provisorischen Stacheldrahtgehegen
entlang des Rheins weder Obdach noch irgendein anderer Komfort zugebilligt werden dürfe, nicht einmal Post. So
waren denn Hunderttausende auf engstem Raum zusammengepfercht — zuweilen fanden sie keinen Platz zum Hinlegen — und
allen Unbilden des damals durchweg regnerischen, naßkalten Wetters ausgesetzt. Die häufigsten Todesursachen waren —
das geht aus Berichten amerikanischer Militärärzte hervor — keineswegs Unterernährung, Flüssigkeitsmangel oder
Erschöpfung, sondern vornan standen Durchfall und Ruhr (eine Kategorie), Herzkrankheit und Lungenentzündung, also
unzweideutige Folgen der Witterungsverhältnisse, der Überfüllung in den Lagern und des Fehlens sanitärer
Einrichtungen.
Einen weiteren Verstoß gegen die Genfer Konvention begingen die Amerikaner, als sie zwischen 700 000 und 800 000
Kriegsgefangene (die Zahlen in den Akten differieren) an Frankreich auslieferten. Zwar stellten sie dabei die
Bedingung, daß die Franzosen diese Menschen nach den Vorschriften der Konvention behandelten. Bacque zitiert aus
einem erschütternden Bericht eines französischen Hauptmanns, der 32 000 Menschen aus einem amerikanischen Lager bei
Dietersheim übernehmen sollte, darunter auch Alte, Frauen und Kinder. Der morastige Boden war "bevölkert mit
lebenden Skeletten". Insgesamt 166 000 Gefangene in diesem Gebiet wurden von den Franzosen "in beklagenswertestem
Zustand" aufgefunden. Der Hauptmann bezeichnete die Schreckensstätten als "Lager des langsamen Todes". Zehntausende
von alten Männern, Frauen, Kindern, Todkranken und Krüppeln wurden sofort entlassen. Die anderen Gefangenen kamen
nach Frankreich, doch waren viele wegen der langen Unterernährung so arbeitsunfähig, daß sich das Internationale
Rote Kreuz um die Mißstände kümmerte.
Die Darstellungen Bacques sind sicherlich für viele Amerikaner eine Neuigkeit. Was ihm jedoch von Experten und
auch Historikern vorgehalten wird, ist sein Umgang mit den Todesstatistiken. In der mehrbändigen wissenschaftlichen
"Geschichte der deutschen Kriegsgefangenen des Zweiten Weltkrieges", Anfang der siebziger Jahre im Auftrag der
Bundesregierung herausgegeben, hat Kurt
Böhme — zwar mit Vorbehalten und zum Teil nach Schätzungen — festgestellt, in sechs Rheinwiesenlagern seien von 557
000 Gefangenen nur 3053 (amerikanische Angaben) oder 4537 (deutsche Angaben) gestorben, also eine Todesquote von 0
6 bis 0 8 Prozent, will sagen: Anders als in der Sowjetunion habe es im Westen kein Massensterben der Gefangenen
gegeben. Bacque arbeitet mit ganz anderen Zahlen; er wirft Böhme vor, sich zu sehr auf amerikanische Quellen
gestützt zu haben. Nun gibt es bis heute in Deutschland noch keine hundertprozentige Aufklärung über das Schicksal
von circa 1 748 Millionen verschollener Angehöriger der Wehrmacht (keine offizielle Zahl!). Im Jahre 1950 hatte man
sich in Bonn — damals noch ohne vollständige Daten — auf
eine Faustregel geeinigt: nahezu 1 3 Millionen Vermißte im Osten, 100 000 im Westen. Der Suchdienst des Roten
Kreuzes hat inzwischen ein Drittel der Vermißtenfälle in der Wehrmacht aufgeklärt; in 1 086 Millionen Fällen
vermutet man, daß die Soldaten tot sind.
Bacque hat die Deutschen und Amerikaner im Verdacht, sie hätten während des Kalten Krieges absichtlich, um von
den Vorgängen in den westlichen Lagern abzulenken, das Vermißtenproblem den Russen zugeschoben. Er kommt auf viel
höhere Todesraten als Böhme, dem er falsche Berechnungen unterstellt. Der kanadische Autor hat freilich nur
Bruchstücke von Akten, aus denen er dann die Zahl der Toten hochrechnet.
In seinem Vorwort räumt er selber ein, viele Gelehrte würden Fehler in seinem Buch finden. Er sagt auch
bescheiden, wegen der von ihm aufgedeckten Verschleierungen und Manipulationen in den Akten — angeblich geht es um
eine "fehlende Million" — werde "die Zahl der Toten wahrscheinlich immer umstritten sein". Aber dann begeht er eben
doch den Leichtsinn, sich aufgrund seiner eigenen Hochrechnungen, die er in einem breiten Anhang erläutert und
belegt, festzulegen: Die Zahl der Opfer liege "zweifellos" bei mehr als 800 000, "beinahe mit Sicherheit" bei mehr
als 900 000 und "durchaus wahrscheinlich" bei mehr als einer Million!
Die Diskrepanz zwischen ein paar Zehntausenden, von denen deutsche Sachkenner sprechen, und einer Million Toter
ist so ungeheuerlich, daß sich jetzt die Historiker in der Bundesrepublik aufgerufen fühlen sollten, dieses
Dickicht von echten und falschen Zahlen, von Schätzungen, Annahmen und konkreten Angaben zu durchforsten.
Nachzudenken gilt es auch über den Vorwurf, den der Kanadier gegen die Deutschen erhebt: Sie hätten in einem
merkwürdigen Verdrängungsprozeß den amerikanischen Freunden schon im vornhinein verziehen, ohne daß diese überhaupt
angeklagt waren. Man habe nur zu gern die kleinen Zahlen der Amerikaner übernommen, obwohl man insgeheim an eine
große Zahl glaubte "Nicht imstande zu sein, die Wahrheit über die amerikanischen Greuel zu sagen, ist ein
gespenstisches Echo der Aussage, man habe von den Lagern der Nazis nichts gewußt "
Wem das Zahlenspiel zu kompliziert ist, der halte sich an die Schilderungen unermeßlichen Leides, das in diesem
Falle zufällig von Amerikanern und Franzosen verübt wurde. Bacque will seine Leser aufrütteln zu erkennen, wozu der
Mensch in seinem Haß oder in seiner Gleichgültigkeit fähig ist.
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