Trauma Zweiter Weltkrieg: "Aus dem Massengrab auferstanden"
Wer überlebte, war oft lebenslang traumatisiert. Bernhard Schulz war Soldat der deutschen
Wehrmacht - und verfluchte am Ende den Krieg. 1946 schrieb er auf, wie das Grauen in Russland ihn innerlich
zerriss.
"Wenn diese verdammten Idioten nur Schluss machen wollten", schrieb Bernhard Schulz am 2. April
1945 seiner Gerda. Der Journalist und Schriftsteller (1913-2003) hatte den Krieg mehr als satt, er wollte nach
Hause, seine Frau und sein Baby im Arm halten, es sollte in diesen Tagen zur Welt kommen. Schulz geriet in
amerikanische Kriegsgefangenschaft und kehrte erst im Spätsommer 1945 zu seiner Familie zurück.
Am eigenen Leib hatte er das Grauen des Zweiten Weltkriegs in Deutschland, Belgien, Frankreich
und Russland erlebt. Krieg und Naziterror verarbeitete der "dörfliche Böll" (so das "Oberbayerische Volksblatt") in
zahlreichen Romanen, Kurzgeschichten und Artikeln. "Bleistiftumriss eines Auferstandenen": Mit dieser Überschrift
versah Schulz den folgenden Text. Er bezieht sich auf den Kampf um die zentralrussische Stadt Suchinitschi, die
Anfang Oktober 1941 von der Wehrmacht besetzt und knapp drei Monte später von der Roten Armee zurückerobert
wurde.
Der Autor spiegelt auf beklemmende Weise das lange tabuisierte Kriegstrauma der Veteranen wider
- die Untaten der Wehrmacht spart er freilich aus. Schulz hat den Text 1946 verfasst und nie veröffentlicht: Den
Verlegern war der "Bleistiftumriss" zu brutal, erzählt sein Sohn, Ansgar Schulz-Mittenzwei. Er hat einestages den
Text geschickt und auch eine Website für seinen Vater eingerichtet (www.bernhardschulz.de).
Und er sprach: "Jüngling, ich sage dir, steh auf. " Da richtete sich der Tote auf und fing an
zu reden.
Lukas 7, 11-16
Ich bin, wenn ich das sagen darf, aus dem Massengrab auferstanden. Ich bin krank. Ich bin
vermutlich eine Zeitlang zu schlecht ernährt worden. Was an mir gesund war, haben die Läuse gefressen. Das
Fleckfieber war nicht das Einzige. Auch das wolhynische Fieber befiel mich. Das tat mir in den Schienbeinen am
meisten weh.
Dann kam Malaria hinzu, in Schirokowka, glaube ich wohl. Die Leber war geschwollen und die Milz
einmal vergrößert. Die Erreger hochzeiteten in meinem Blut. Oh, als ich krank war, lernte ich Blutbilder betrachten
und Fieberkurven lesen. Ich unterhielt mich vortrefflich dabei.
Ich sagte eben, die Läuse fraßen an mir. Das ist ein Ausdruck, den ich eigentlich nicht
verwenden dürfte. Ich bin längst nicht mehr so vornehm, wie ich früher war. Ich sage heute geradeheraus "fressen ".
Die Läuse haben mich aufgefressen, nitschewo (Russisch für: Macht nichts. Anm. d. Red.).
Wissen Sie übrigens, was aus meinen erfrorenen Zehen geworden ist? Die sind im Gemüsegarten
hinter der Baracke Sieben des Seuchenlazaretts in Shisdra beerdigt worden. Ich hoffe, dass sie dort einigermaßen
selig ruhen.
"Als Einzelner der Schlucht entronnen"
Sehen Sie, die ganze Sache wäre ohne Bedeutung, wenn ich tot wäre. Aber ich bin nicht tot. Ich
bin halb tot. Ich habe Glück gehabt, dass ich mit dem halben Tode davongekommen bin. Wahr ist, dass ich für ein
Massengrab in Suchinitschi projektiert war. Nicht als Einzelner projektiert, sondern als Masse. Die Masse liegt
zwei Kilometer westlich vom Bahnhof Suchinitschi, da wo die Schlucht ist.
Ich als Einzelner bin der Schlucht entronnen. Ich habe also einen Betrug begangen. Ich habe den
Armeeführer um 4,3 Gramm Leichtmetall beschummelt. Das war meine einzige Korruption im Kriege, ich gestehe das ein.
4,3 Gramm - so viel wiegt nämlich die Hälfte einer Erkennungsmarke, dieser Eintrittskarte in "Walhall". Die Hälfte
wollte der Armeeführer haben, damit er meiner Mutter in Osnabrück melden konnte: "Gefallen auf dem Felde der
Ehre."
Das war faustdick gelogen gewesen. In Suchinitschi sind sie nicht gefallen, sondern von
sibirischen Scharfschützen mit Gewehrkolben erschlagen worden. Und außerdem nicht auf dem Felde der Ehre, sondern
bei 56 Grad Kälte zwischen Lokomotiven und Panjehütten. Wolken von Krähen ließen sich auf ihrem Fleisch nieder wie
auf Holz.
Heulende Granaten und knisternde Grade Frost
Das war vielleicht ein Achtel Tod, den ich damals erlitt. Eine MG-Garbe zwitscherte durch meine
Schenkel und versengte die weiße Haut. Das hat mich veranlasst, wegzulaufen. Hinter mir brannte der Bahnhof
lichterloh. In Popkowo wollten mir die Partisanen die Ohren abschneiden. Sie benutzten kleine Schälmesserchen
dazu.
Aber in Popkowo hatte ich einmal einer Madka Schokolade aus einem Frontpäckchen geschenkt für
ihre Kinder (ich versuchte, den Krieg wiedergutzumachen, indem ich mein Brot russischen Kindern gab).
Die Madka küsste meine erfrorenen Hände und sagte: "Dobre pan" (Guter Meister, Anm. d.
Red.), und die Partisanen ließen mich in den Schnee hinausgehen. Dann schossen sie nach mir wie nach einem
Fuchs. Das war wieder ein Achtel Tod. So kam ein Achtel zum anderen, und bisweilen waren es auch bloß Sechzehntel
und Vierundzwanzigstel.
Jetzt nach meiner Entlassung, mitten in der Arbeit, oder sonntags in der Kirche, oder abends auf
dem Feuerwehrball, oder wenn gesungen wird, kommen sie an, die Achtel und Sechzehntel Tode, diese Bruchstücke des
Krepierens einer Menschenhülle, heulende Granaten und knisternde Grade Frost, Läuse, Mücken, Wanzen, Marschbefehle,
Angriffsziele, Feuerpläne, und die Schälmesserchen der Partisanen...
Ich schreite nicht mehr. Ich taumele.
Wer dies liest, hat den Vorteil, dass er meine Auferstehungsrede angewidert aus der Hand legen
kann. Es braucht ihn nicht zu interessieren, warum der eine ganz tot und der andere halb tot ist. Der ganz Tote hat
alles erledigt. Ich, der ich halb tot bin, bin nicht mehr im Stande, etwas zu erledigen. Ich schreite nicht mehr.
Ich taumele. Ich bin immer ernst.
Ich stehe da und schaue auf meine Füße, oder auf einen Hausgiebel, und weiß der Himmel, was in
mir vorgeht. Ich beteilige mich an nichts mehr. Wer mich mitnimmt auf einen Sängerball, muss sehen, wie er mit mir
zurechtkommt. Wahrscheinlich gehe ich weg. Kann sein, dass ich dann auf der Landstraße, an einen Baum gelehnt,
stehen bleibe.
Was ich sehe, sind weite öde Flächen Schnee und aufzuckendes Feuer von Geschützen. Was ich
fürchte, sind die mahlenden Raupen der Panzer und die schwellenden Bäuche der Panjepferdchen im Morast der
Schneeschmelze. Was ich betrachte, sind die kahl geschorenen Köpfe erhängter Mongolen und roter Mull von einem
eisverkrusteten Wasserloch.
Ein Achtel Granatsplitter im Kreuz
Was ich anstiere, sind weiße schwebende Pünktchen über dem glitzernden Schnee, die einen
Granatwerfer aufbauen und mich mit Feuer überschütten. Was ich begreife, sind die Rohre der Ratschbumm, die sich
auf den Fleck zwischen meinen Augen einschießen.
Was ich haben will, sind Brot und Schmalz und Tabak und Schnaps und ein Brief von daheim. Was
ich besitze, sind faulige Kartoffeln, Losanthintabletten, Patronen und Klopse aus gefrorenem Pferdefleisch. Was ich
kenne, sind Leichen, Krähen, Kapusta (Polnisch für Kohl, Anm. d. Red.), Läuse und Läuseeier. Was ich nicht
kenne, sind Ausruhen und Schlaf und Vormichhinlächeln...
Ich sagte schon, wenn ich tot wäre, brauchten wir nicht darüber zu reden. Aber ich bin nicht
tot. Jedenfalls nicht ganz. Ich lebe. Das Leben besteht für mich aus Bruchteilen, wie auch der Tod für mich nur
Bruchwerk ist: Ein Achtel Granatsplitter im Kreuz, ein Achtel erfrorenes Zehenfleisch, ein Achtel vergiftetes Blut,
ein Achtel angeknackte Lunge, ein Achtel verseuchte Milz, ein Achtel...
Ich glaube, ich muss in Vierundzwanzigsteln rechnen. Der Tod geht nicht auf. Das ist das
Schreckliche an mir.
Fotostrecke Zeitzeuge Bernhard Schulz: "Mit dem halben Tode davongekommen"
"Dörflicher Böll": So hat das "Oberbayerische Volksblatt" Bernhard Schulz (1913-2003) einmal bezeichnet. Der
Autor und Journalist hat 24 Bücher und mehr als 1000 Kurzgeschichten geschrieben. Nach dem Zweiten Weltkrieg ging
er nach Osnabrück, wo er als Feuilletonredakteur der "Neuen Tagespost" tätig war (Foto von 1951). Als
Wehrmachtssoldat erlebte er zuvor das Grauen des Krieges.
Foto: privat
Soldat Schulz: Während des Zweiten Weltkriegs war Schulz zunächst in Belgien und Frankreich stationiert.
1941 wurde sein Regiment an die Ostfront abkommandiert, 1942 kehrte er verletzt aus Russland zurück. Nach seiner
Genesung wurde Schulz bis Kriegsende als Schreiber in Hannover eingesetzt.
Foto: privat
"Ich habe Glück gehabt, dass ich mit dem halben Tode davongekommen bin", schrieb Schulz (2. von links) über
seine traumatischen Erfahrungen in Russland. Das Foto entstand 1942 in der hart umkämpften zentralrussischen Stadt
Suchinitschi. Im Herbst 1941 wurde sie von der deutschen Wehrmacht besetzt, Ende Januar 1942 von der Roten Armee
zurückerobert.
Foto: privat
Straßenszene: Dieses Foto entstand während der Zeit in Russland - das dort erlebte Grauen hat Schulz
wesentlich geprägt. Der Autor verarbeitete seine Erlebnisse in dem unveröffentlichten "Bleistiftumriss eines
Auferstandenen" von 1946, aber auch in seinem Erzählband "Die Krähen von Maklaki" (1967). Das Werk wurde ins
Russische übersetzt und in der Sowjetunion positiv aufgenommen.
Foto: privat
Aldernay: Wehrmachtssoldat Bernhard Schulz wurde während des Zweiten Weltkriegs auch auf die britische
Kanalinsel Aldernay geschickt (Foto). 1940 besetzten die Deutschen die Insel. Sie betrieben dort drei Arbeits- und
ein Konzentrationslager, das sogenannte Lager Sylt.
Foto: privat
Gefangen auf der Wiese: Im Frühjahr 1945 geriet Schulz in Rheinberg am Niederrhein in amerikanische
Kriegsgefangenschaft; interniert war er im berüchtigten Rheinwiesenlager (Foto). Freigelassen wurde Schulz im
September 1945.
Foto: ullstein bild/ LEONE
Hochzeit mitten im Krieg: Am 22. Dezember 1942 heirateten Bernhard und Gerda Schulz. 154 Briefe schrieb der
Autor zwischen 1941 und 1945 an seine Frau. Sie sind geprägt von einer wachsenden Kriegsmüdigkeit: "Wenn diese
verdammten Idioten nur Schluss machen wollten", schrieb Schulz am 2. April 1945 in einem Brief an Gerda.
Foto: privat
Elternfreuden: Drei Kinder bekam das Ehepaar Schulz, dieses Foto entstand 1947 in Osnabrück und zeigt
Bernhard und Gerda Schulz mit Tochter Sabine. Als einen "großartigen Autor. Sprachlich wunderbar - und zu Unrecht
vergessen", lobt ihn die Schriftstellerin Doris Lerche.
Foto: privat
15.04.2018, 11.08 Uhr
Quelle:
http://www.spiegel.de/einestages/zweiter-weltkrieg-aus-dem-massengrab-auferstanden-trauma-eines-soldaten-a-1202101.html
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