“Ich habe Rudolf Augstein entdeckt”
John Chaloner, der Mann, der den „Spiegel" erfand, trauert um die verpaßte Chance seines Lebens
Stunden vor der deutschen Öffentlichkeit erhielt John Chaloner die Nachricht vom Tode Rudolf
Augsteins. „Mitten in der Nacht klingelte das Telefon. Ein Freund aus Berlin hat es mir gesagt. Und das gerade
jetzt, wo meine Frau nicht da ist. Die Dame, die Ihnen die Tür geöffnet hat, ist eine Krankenschwester." Seit
einem Reitunfall bewegt sich Chaloner nur mit Mühe von seinem Sofa weg. Das Wohnzimmer seiner kleinen, dunklen
Erdgeschoßwohnung in der Londoner Innenstadt, in dem schon am Vormittag der Kamin brennt, macht den Eindruck,
als sei hier jemand schon sehr lange sehr krank. Beim Sprechen macht er lange Pausen zwischen den Sätzen und
wechselt zwischen Englisch und einem hellen Deutsch, in dem er viel jünger klingt. „Es ist eine furchtbare Zeit
für mich, müssen Sie wissen."
Chaloner ist vom loci Augsteins schwer ergriffen. Da ist der Verlust eines Weggefahrten, aber heftiger noch setzt
ihm die Gewißheit zu, daß sich all die Ambivalenzen in seiner Beziehung zu Augstein nun nicht mehr auflösen
werden. Und dann ist da die Sache mit dem gemeinsamen Geburtstag. „1945 in Hannover mußten alle, die Journalist
werden wollten, so einen Fragebogen ausfüllen. Da habe ich mit Interesse gesehen, daß Augstein den gleichen
Geburtstag hat wie ich, bloß ein Jahr früher." Rudolf Augstein war 22 Jahre alt, und Major John Chaloner, als
Presseoffizier der britischen Besatzungsverwaltung Augsteins übermächtiger Vorgesetzter, 21 Jahre. Der 5.
November vereinte die beiden Männer. Auch in den letzten Jahren gab es eine Karte, ein Telegramm oder einen
Telefonanruf, um sich gegenseitig einen Happy Birthday zu wünschen. Jetzt zeigt Chaloner auf die
Geburtstagskarten auf dem Kaminsims, als handele es sich um Indizien in einem Strafprozeß: Da stehen sie noch,
die Karten, die ich dieses Jahr bekommen habe. So kurz ist das erst her. „Der 5. November, das war für Augstein und
mich so eine, wie sagt man auf deutsch: Schicksalssache."
1945 in Hannover, alle bundesdeutschen Presselegenden beginnen mit diesen Worten, und es ist, egal ob bei
Springer, Nanncn oder Augstein, stets die gleiche Geschichte vom strengen britischen Major und den pfiffigen
jungen deutschen Zeitungsmachern, die nach trickreichen Verhandlungen endlich ihre Presselizenz ergattern.
Chaloner erzählt die Geschichte andersherum, fest ist er ein bißchen müde, sie noch einmal zu erzählen, weil die
Fragen, die ihn an diesem Morgen beschäftigen, ganz andere sind.
Aber trotzdem erinnert er sich an das einzige nicht zerstörte Hochhaus Hannovers. Daß er erst Regionalzeitungen
aufbauen mußte und die Schwierigkeit war, Papier zu finden und Schreibmaschinen und deutsche Journalisten, die
keine Parteimitglieder gewesen waren. Und Augstein war eben so einer. Schließlich entwickelte er, Chaloner, mit
den ihm zur Seite gestellten Sergeants Bohrer und Os- mond das Konzept eines deutschen Nachrichtenmagazins nach
dem Vorbild von „Time". „So etwas gab es noch nicht in Deutschland. Etwas ohne diese umständliche Sprache, ohne
Parteizugehörigkeit, das einfach nur die Nachrichten bringt, die die Redaktion für wichtig erachtet." Und dann hat
er in London die Genehmigung beantragt, einige Probenummern zu basteln . Jetzt brauchte er noch Journalisten.
„Ich nahm dafür natürlich die besten Leute aus meinen Regionalzeitungen," John Chaloner machte Augstein zum
Chefredakteur. Warum ihn? „Er hatte verschiedene Qualitäten: Erwar entschlossen, wußte, welche Art von Texten so
ein Blatt brauchte." Und es gab noch andere Qualitäten, aber die fallen Chaloner nicht ein. Bald gab es Ärger mit
der britischen Regierung. Kurz vor dem avisierten Erscheinungstermin des Nachrichtenmagazins sollte alles
gestoppt werden. Ein Fernschreiben aus London untersagte ihm, mit der Produktion des Blattes fortzufahren. Er
dachte nicht daran. „Ich habe meiner Sekretärin gesagt: Ich bin nicht im Hause, ich habe dieses Telex nie gesehen."
Dann ging er in die Druk- kerei und drückte den Knopf zum Andruck der ersten Ausgabe von „Diese Woche". Schnell
war klar, daß das Konzept funktionierte und das Blatt ein großer Erfolg zu werden versprach. Bis zu zwanzig Leser
teilten sich ein Exemplar.
Die britische Regierung drängte nun darauf, das Magazin ganz in deutsche Hände abzugeben, um keine Verantwortung
für die respekdosen Artikel übernehmen zu müssen. Chaloner sorgte dafür, daß Augstein zusammen mit zwei anderen
Redakteuren die Lizenz bekam. Das Blatt hieß nun „Der Spiegel", Augstein wurde Herausgeber, und Chaloner war bald
darauf seinen Posten los. Seine Tricks beim Entwickeln des Blattes waren nicht sonderlich gut angekommen in
London. Die Redaktion war von nun an allein in deutscher Verantwortung, und auch das entsprach irgendwie Chaloners
Konzept: „Wenn wir den Deutschen ; die Pressefreiheit beibringen wollen, dann müssen wir sie ihnen geben."
Doch der Kontakt zum „Spiegel" riß nicht ab. „Wann immer es ging, rief ich in der ,Spicger-Redak- tion an. Ich half
Rudolf, die richtigen Entscheidungen zu treffen." In dem Maße, wie der Erfolg des „Spiegels" wuchs und
Augsteins Macht zunahm, wurde es immer kälter zwischen den beiden Männern. „Vor allem, als Augstein so ein
wichtiger Mann geworden war, wurde es immer schwerer, mit ihm irgendwie gesellig zu sein. Ich besuchte ihn später
oft in Hamburg im ,Spieger-Gebäude. Und die Tatsache, daß ich einmal sein Vorgesetzter gewesen war, stand immer
zwischen uns."
Es gab freilich auch andere Zeiten, als sich die beiden in London trafen, wo Augstein ein Haus hat: „Er fuhr damals
einen Rolls-Royce. Ich führ damals einen Rolls-Royce. Also haben wir uns über diese Autos unterhalten, dann
besuchten wir Nachtklubs. Wir hatten damals sehr gute Nachtklubs hier in London ... Zu jener Zeit war er mit einer
sehr attraktiven rothaarigen Dame verheiratet. Ich mußte da emen Moment sogar ein bißchen aufpassen, denn ich
hatte mich in sie verguckt."Ich lud sie immer zum Essen ein, wenn Rudolf geschäftlich unterwegs war."
Die gemeinsame Vergangenheit hat die beiden Männer ebensosehr vereint wie entzweit. Chaloner hatte die Idee für den
„Spiegel", der andere hat ihn gemacht, Augstein wurde reich, Chaloner nicht. So entstand ein ambivalentes,
changierendes Verhältnis, das Chaloner auch über Augsteins Tod hinaus nicht losläßt. „Wenn Sie mich jetzt fragen,
wie Augstein so war, dann ist das für mich sehr schwierig zu beantworten", sagt er, und es ist-nicht seine
schlechte körperliche Verfassung, die er damit meint, oder die Schwierigkeit, sich über fünfzig Jahre zu erinnern.
Er sagt es mit voller Konzentration, so wie ein Schachprofi über eine komplizierte, noch laufende Partie sprechen
würde, bei der der Ausgang ungewiß ist. „Angeln und reiten und so was konnte ich mit ihm nicht, wir waren keine
Kumpels. Er war ein einsamer Mann. Es gibt doch dieses Sprichwort: Jeder Mann ist eine Insel. Er war wirklich
seine eigene Insel." Als die „Spiegel-Affäre" beginnt, fliegt Chaloner, inzwischen Geschäftsmann in London,
sofort nach Deutschland, um den „Spiegel" zu verteidigen. „Ich besuchte in Bonn alle möglichen Botschafter und
erklärte ihnen, die Maßnahmen gegen den ,Spiegel' seien eine Wiederauflage des Tlider- regimes. Ich habe sie
gebeten, all ihren Einfluß geltendzu machen, um das zu unterbinden. Und das haben sie dann auch gemacht."
Natürlich hat er es sich nicht nehmen lassen, den inhaftierten „Spiegel"- Chef zu besuchen: „Der arme kleine
Augstein war ja ins Gefängnis gesteckt worden", sagt er ohne übertriebenes Mitgefühl.
Das komplizierte Verhältnis zwischen den beiden Vätern des „Spiegels" verschlechterte sich noch einmal im Jahr
1988. Für das „Hamburger Abendblatt" verfaßte Chaloner zum gemeinsamen Schicksalstag einen Geburtstagsgruß an
Rudolf Augstein. „Das hat es dann endgültig abgekühlt. Ich hatte ein wirklich aufrichtiges Porträt von ihm
geschrieben, wie er immer eulenhafter wird und so. Das mochte er nicht. Er war ja überaus empfindlich." Da fällt
Chaloner ein, daß das noch ein Grund war, warum er Augstein damals zum Chefredakteur gemacht hat: Weil er so
sensibel war, ünd das war ja die Mischung, die man bei so einem Blatt brauchte, Entschlossenheit und
Sensibilität.
Wenn man den fraglichen Text heute wieder liest, kann man leicht nachvollziehen, daß er Augstein mißfiel. Dort
steht etwa der Satz: „Bis heute brütet die gedrungene napoleonische Gestalt mit dem leicht räuberischen
Eulengesicht einsamer denn je im 12. Stock." Dann steht da noch, wem der typische Sprachstil des „Spiegels" zu
verdanken ist, nämlich Chaloner, und es gibt ein kleines Foto des Autors mit der Bildunterschrift: John Chaloner
erfand den Spiegel." Nur Chaloner konnte es sich leisten, öffendich so mit Rudolf Augstein umzugehen.
Während die persönliche Beziehung zum Herausgeber immer Jkühler wurde, entstand eine finanzielle zum „Spiegel".
„Aus heiterem Himmel bot mir der,Spiegel' vor zehn Jahren eine stattliche Summe an, um dem Verlag in
Großbritannien und anderen Ländern behilflich zu sein." Chaloner hält seitdem auch einen bescheidenen Anteil am
Blatt. Die finanziellen Beteiligungen, die gegenseitigen Ansprüche und Zahlungen bleiben aber undurchsichtig, wie
so vieles im Milieu der großen Hamburger Verlegergestalten. Die Zeithistoriker werden es aufarbeiten.
Gerade, wenn er lange schweigt und man denkt, er sei dabei, wieder ms Hannover des Jahres 1945 zurückzugleiten,
überrascht Chaloner mit einer luziden und exakten Analyse der komplizierten Nachfolgefrage beim „Spiegel". Nichts
sei geklärt, ärgert er sich, ganz so, als habe der Mann, dem er den „Spiegel" einst übergeben hat, in diesem Punkt
nicht zufriedenstellend gearbeitet. „Unprofessionell" gehe es in Hamburg zu. Erst kürzlich war er in Hamburg, um
das alles zu diskutieren. Schon vor Jahren hätten die Anteilseigner der Familie Jahr an Augstein herantreten und
ihn fragen sollen, wie seine Nachfolge geregelt sei. „Ganz kaltblütig" hätte man ihn das fragen müssen.
Vor drei Jahren hat Chaloner Augstein zum letzten Mal gesehen. „Er sah nichts mehr und konnte kaum noch sprechen.
Seine Gesundheit war ja sehr schnell sehr schlecht geworden. Die vier Ehen und sein Interesse an diesem Zeug hier
haben da sicher nicht geholfen", sägt Chaloner und hält das Wasserglas voller Whisky hoch, das er sich eingegossen
hat, um den Vormittag zu überstehen. Dann ist er wieder eine Weile still und fügt, auf deutsch und jünger
klingend, an: „Das ist ein bißchen schwierig für mich heute."
Auf dem Tisch liegt das Buch, das John Chaloner 1991 geschrieben hat, „Oc- cupational Hazard". Es ist ein
Schlüsselroman über den „Spiegel" und noch ein wenig mehr. Die Rahmenhandlung: Der Beaumont wird von einem
Journalisten, der im Krieg einmal sein Vorgesetzter war, für die BBC porträtiert und gibt dabei mehr preis, als er
selbst will. Der dominante, seltsam undurchdringliche Ty- coon mit einem „hellen Lachen ohne besondere Wärme" ist
Augsteüi. Aber man traut bei der Lektüre seinen Augen nicht: Im Roman war die Augstein-Figur ein britischer
Panzerkommandant wie Chaloner und sagt die Sätze, die Chaloner eben im Interview gesagt hat. Auf Seite 383 steht:
„Wenn wir den Deutschen die Pressefreiheit beibringen wollten, müssen wir sie ihnen geben, sagte Max Beau- mont."
Einige Seiten später schildert Beaumont, wie er ein Telex aus London ignorierte, um das Nachrichtenmagazin
anzudrucken, aus dem später „Das Fenster" werden sollte.
Im Roman konnte Chaloner die beiden Biographien endgültig zusammenfuhren, während das Leben für eine
verwirrende, ergreifende Mischung aus historischer Verbundenheit und persönlicher Rivalität, aus Bewunderung und
Fürsorge, aus Kälte und Intimität gesorgt hat. „Augstein wird in die Geschichte eingehen", sagt er zum Abschied
feierlich. Immer noch ist er der Mann, der Chaloner am meisten beschäftigt, und die Gedanken an Augstein sind
heute wie Heimsuchungen auf der Couch, die sein Krankenlager geworden ist.
Die Fragen, die Chaloner jetzt beschäftigen, haben aber nichts mit dem „Spiegel" oder dem Geschäft zu tun. Es ist
diese Schicksalssache. Wenn man den gleichen Geburtstag hat, nur ein Jahr auseinander ist, das Leben parallel
nebeneinander her lebt, und der Ältere stirbt - was sagt das dann über den Todestag des Jüngeren.
„Wenn schon Pressefreiheit, dann aber gleich, richtig "
Vor 40 Jahren - Wie der SPIEGEL entstand/Von Leo Brawand
An der Durchreicheklappe in der Kantine vollzog sich jeden Mittag das gleiche Defilee von
Hungerleidern. Doch Hulda Rehse, die Kantinenwirtin im Anzeiger- Hochhaus zu Hannover, unterschied streng nach
Hungerleidern erster und zweiter Klasse: Erkannte sie unter den ausgemergelten Gestalten an der Klappe jemanden
aus der Redaktion des neuen Nachrichtenmagazins „Diese Woche", die im sechsten Stock arbeitete, so schöpfte sie ihm
aus einem Extrakessel Fettbrühe oder Fleischstücke auf den Teller. Fleisch und Brühe stammten aus Beständen der
Naafi, der Versorgungseinheit britischer Soldaten.
Wer da an den Fleischtöpfen der Sieger des Zweiten Weltkrieges in Hannover Atzung genoß, das
waren neben einigen wenigen Erwachsenen blutjunge Leute, manche kaum dem Hitlerjugend-Alter entwachsen, aus jener
Kindergeneration, von der es in den letzten Kriegswochen geheißen hatte, nur sie könnte als Volkssturm mit
Panzerfäusten die Niederlage noch verhindern.
Für manche in dem von einer grünpatinierten Kuppel gekrönten Hochhaus, das wie durch ein Wunder inmitten der
Trümmerwüste an der Goseriede heil geblieben aufragte, galt als ausgemacht: Die angebliche Journalistenschar
wurde vom britischen Geheimdienst, dem Secret Service, ausgehalten.
Erster Mann unter den deutschen Redakteuren schien ein blasser, bebrillter Jüngling zu sein, den die anderen den
„Kleinen" nannten - jedenfalls zu Anfang. Große journalistische Erfahrungen besaß dieser Rudolf Augstein nicht.
Während des Krieges hatte er ein halbes Jahr beim „Anzeiger" volontiert, nach 1945 ein Jahr für das „Hannoversche
Nachrichtenblatt" und für den „Kurier" an der Georgstraße gearbeitet, der Zeitung des SPD-Politikers Kurt
Schumacher, der, aus dem Konzentrationslager kommend, bei seiner Schwester in Hannover einquartiert war und
versuchte, die Sozialdemokratie in ganz Restdeutschland neu zu organisieren. Auch einige Artikel für die
Goebbels-Zeitschrift „Das Reich", so hieß es, habe der junge Augstein geschrieben, allerdings nur Theaterkritiken
oder ähnlich politisch Unverfängliches.
Ein anderer fiel an Hulda Rehses Futterklappe vor allem durch seine Kleidung auf. Er hieß Hans Joachim Toll und
trug inmitten der tristen, umgefärbten Wehrmachtsröcke und Panzerblusen stets einen modischen Maßanzug.
Pfeifenraucher Toll war Kulturredakteur bei der „Niedersächsischen Tageszeitung" („NTZ"), dem Blatt der NSDAP in
Hannover, aber schon aus ästhetischen Gründen nie ein Freund der Nazis gewesen. Ihn hatten die Briten als zweiten
nach Augstein eingestellt, wobei sich die Anstellung eher nach Art des niedersächsischen Pferdehandels denn nach
Arbeitsoder Tarifverträgen vollzogen hatte.
1987 Econ Vertag. Düsseldorf.
Mit Augstein gingen die drei britischen Soldaten, die manchmal mittags Hulda Rehses Kantine
beehrten (dort aber nicht aßen), am freundschaftlichsten um. Zwei von ihnen, die Stabsfeldwebel Harry Bohrer und
Henry Ormond, sprachen deutsch ohne Akzent, der dritte galt mit seinen 22 Jahren als jüngster Major der Rhine Army;
er hieß John Chaloner, stammte aus einer englischen Verlegerfamilie und zeigte ein ausgesprochenes Faible für
PS-starke Autos und hübsche Mädchen. Mit beiden kam er schnell auf Touren.
Die drei Briten gehörten einer Dienststelle an, der Kontrolle und Aufbau von Presse und Rundfunk in Lower Saxony
(Niedersachsen) übertragen worden war. Dem Prager Emigranten Bohrer hatte die Auswahl der deutschen Mitarbeiter
für „Diese Woche" oblegen. Wer zu ihm vorgedrungen oder auserwählt worden war, hörte nur Vages über das
journalistische Unterfangen. Der korrekte Bohrer, dessen deutsche Putzfrau stets drei auf Hochglanz polierte
Koppelriemen parat zu halten hatte, warnte eher, als daß er zuriet.
„Ich kann Ihnen nichts bieten", eröffnete er seinen deutschen Kandidaten. „Ich weiß nicht, was wir zahlen können.
Ich weiß nicht genau, wo wir drucken werden, was für einen Apparat wir aufziehen. Aber es wird Ihnen großen Spaß
machen ..."
Etwas Schriftliches bekam keiner der Mitarbeiter in die Hand - kein Wunder, denn bei der Gründung der neuen
Zeitschrift handelte es sich im Grunde um eine Schnapsidee des sich nach Ende der Kampfhandlungen langweilenden
Majors Chaloner, auf jeden Fall um eine rein private Unternehmung der drei Initiatoren, bei deren Erörterung Sprit
in mancherlei Form eine nicht unbedeutende Rolle gespielt hatte.
Eine offizielle Anweisung oder Genehmigung lag nicht vor. Im Gegenteil, es fehlte nicht an Warnungen und Anfragen
aus London, was die drei denn da mit ihrer Amateurtruppe vorhatten und ob man das knappe Papier nicht lieber für
gehobene literarische Vorhaben verwenden sollte.
Der umgängliche Hans Joachim Toll, immerhin Mitte Vierzig, galt als gestandener Journalist; ihm wurde die Leitung
der Kulturredaktion übertragen. Er konnte auf eigene Buchveröffentlichungen verweisen (Beispiele: „Der chronische
Chronist" sowie ein mehrteiliges „Hannoversches Wörterbuch", in dem er Sprichwörter „vor der Vergessenheit
bewahren" wollte) und freute sich bei seiner Einstellung noch, einen großen Teil seiner früher geschriebenen
Kurzgeschichten („alle völlig unpolitisch") in dem neuen Blatt verwenden zu können. Sein Irrtum über die Art der
neuen Zeitung war verzeihlich, hatte doch selbst Augstein anfangs geglaubt, es gelte, ein satirisches Magazin
herauszubringen.
Für das Wirtschaftsressort warb Harry Bohrer den 21 jährigen Arbeitersohn Leo Brawand an, der noch als Lehrling
bei der Frankfurter Versicherungs-AG in Hannover bis 1942 Leo Borowiak hieß. Nachdem er in Rußland drei
Maschinenpistolenkugeln eingefangen hatte, war er gerade rechtzeitig zum Kriegsende mit seinem
„Langemarck"-Studium fertig geworden und unterrichtete an der privaten Handelsschule Buhmann
Betriebswirtschaftslehre und Englisch.
Außer einem prämierten „N TZ"-Aufsatz als 14jähriger im Herbst 1939 („Wir sammeln Eicheln für den Sieg!"), kleinen
Meldungen in hannoverschen Tageszeitungen und einem journalistischen Kurzkurs" an der Volkshochschule
prädestinierte ihn nichts für die neue Aufgabe. Als Probearbeit lieferte er einen Artikel mit der Überschrift „Der
Völkerbund ist tot, es lebe die Uno". (Wenn fortan von dem „Wirtschaftsredakteur" die Rede ist. handelt es sich um
den Verfasser.)
Neben weiteren Twens von Anfang 20 zählten noch zwei Männer über 40 zur Redaktion: Dr. Werner Hühne, ein seriöser
Brillenträger, der ob seiner glattgescheitelten Frisur und zumeist dunklen Kleidung von den Jünglingen „Herr
Oberlehrer" tituliert wurde, aber als Berater Augsteins zunächst einige Bedeutung gewann. Hühne war vor seiner
Einberufung Chef vom Dienst gewesen, war in der protestantischen Laienbewegung engagiert und galt als ein
typischer Generalanzeiger-Journalist.
Fast gleichaltrig mit Hühne war Roman Stempka, ehemals Berliner Scherl-Photograph und während des Krieges
Angehöriger einer Wehrmachts-Propagandakompanie. Kettenraucher Stempka konnte seine ersten Photos noch in einer
Zigarrenkiste als Archiv unterbringen, so wenige waren es. Sein Wahlspruch lautete: „Merkt euch, een Bild saacht
mehr als tausend Worte", ein zweiter, wenn es hektisch zuging: „Pulver, Pulver, es rauchen die Banditen!"
Das anvisierte Nachrichtenblatt sollte ein Männermagazin sein; Frauen waren für gehobene Positionen nicht
vorgesehen. Mit Lore Ostermann (Augsteins späterer erster Frau), Hanne Walz (im Kulturressort) und Hildegard Neef
(vorher Sekretärin und Dolmetscherin von Major Chaloner) jedoch waren drei intelligente Damen an Bord.
Tolls Kulturmitarbeiterin Hanne Walz, 25, hatte schon bei der Information Control Unit in
Hannover Dienst getan, die im ehemaligen „NTZ"-Gebäude an der Georgstraße untergebracht war, wo auch Rudolf
Augstein für die Briten arbeitete. Sie saß in der „Empfangs-Butze", einem WC-großen Raum mit drei Fenstern, die
jeder passieren mußte, der zu den Engländern (darunter dem Entnazifizierungsoffizier Cohn) gelangen wollte.
Von soviel Information und Zeitung umgeben, erwachte schließlich auch in der diplomierten
Englisch-Dolmetscherin der Universität Göttingen der Wunsch, Journalistin zu werden. Als sie von der
bevorstehenden Gründung Harry Bohrers hörte, überreichte sie ihm deshalb ein Probemanuskript mit der Schilderung
ihrer Erlebnisse als Empfangsdame, „und Harry stellte mich sofort ein" (Walz). Monatsgehalt: 300 Reichsmark.
Als unverzichtbar erwies sich die Riege der Redaktionsdamen vor allem bei den in Hannover bald vielgepriesenen
Festen von „Diese Woche". Da ging es sehr frei und sehr lustig zu, und wenn doch einmal Tränen flössen, so nicht
aus Trauer um das Schicksal Deutschlands, sondern weil der verabreichte Methylalkohol zu Tränenfluß und manchmal
auch zeitweiliger Erblindung führte.
Ein schriftliches Programm oder auch nur eine konzeptionelle Antrittsrede Harry Bohrers oder seiner beiden Prop-
Kameraden für die Redaktion im Anzeiger-Hochhaus gab es nicht. Der Redaktionsalltag begann banal.
Harry Bohrer — der Mann aus Prag
Während der ersten Wochen des Jahres 1939 hörte in Prag ein junger Mann aus jüdischer Familie
die politischen Alarmnachrichten im Radio mit wachsender Sorge: Harry Bohrer, damals noch „HanuS" Bohrer und 23
Jahre alt, in dessen Verwandtschaft tschechisch und deutsch gesprochen wurde. Die Familie, fest in jüdischer
Tradition, fühlte sich aber dem deutschen Kulturkreis verbunden, Harry Bohrer besonders. Während sein Bruder Aaron
ein tschechisches Gymnasium besuchte, war Harry auf ein deutsch-tschechisches Gymnasium gegangen, jenes, auf dem
auch Franz Kafka Schüler gewesen war. Da Harry Bohrer Hitlers „Mein Kampf" gelesen hatte und die radikalen Parolen
des sudetendeutschen Führers Konrad Henlein ernst nahm, gab er sich keinen Illusionen über die Zukunft seines
Landes hin.
Als am 15. März 1939 deutsche Soldaten in Prag einmarschierten und auf der Prager Burg die
Hakenkreuz fahne hißten, befand sich Harry Bohrer bereits in Großbritannien.
Die Eltern und die Schwester blieben in Prag, in der Hoffnung, daß alles schon nicht so schlimm
werden würde. Bohrers Schwester reihte sich in den ersten Besetzungswochen noch in die Warteschlangen vor der
Botschaft Panamas und anderer mittelamerikanischer Staaten ein, um ein Ausreisevisum zu erlangen. Man wies sie
überall ab. Eines Tages wurde ihr Mann, ein Ingenieur, zum Transport in ein Konzentrationslager geholt, und die
SS-Führer erklärten den Ehefrauen, wer seinem Mann nachreisen und im Arbeitslager mit ihm zusammen sein wolle,
könne das tun; es werde ein entsprechender Frauentransport zusammengestellt. So folgte sie ihrem Mann in den
Tod.
Fast zwei Jahre lang arbeitete der junge Emigrant Harry auf der Insel als Waldarbeiter, dann zwang ihn ein
Herzleiden, damit aufzuhören. Als die deutsche Invasion drohte, trat er freiwillig in die Armee ein (Bohrer: „Nach
dem Herzfehler fragte da niemand mehr"). Wegen seiner Deutschkenntnisse kam er zu einer Informationseinheit; einige
Zeit war es seine Aufgabe, Kriegsgefangenen-Post zu überprüfen. Bei Kriegsende saß er, inzwischen zum
Stabsfeldwebel befördert, in Brüssel und mopste sich.
Im Oktober 1945 versetzte er sich deshalb selbst (Bohrer: „Das gab's nur in der englischen Armee, sonst nirgendwo
auf der Welt"), und zwar nach Hannover, wo er bei der 30th Information Unit landete. Hier bekam er erstmals ein
Exemplar des von Major John Chaloner und seiner deutschen Sekretärin und Dolmetscherin Hildegard Neef unter dem
Datum des 29. März 1946 zusammengeschnittenen „Dummy", der Probenummer des neuen Nachrichtenmagazins, zu Gesicht,
und bald darauf gab es zwischen Chaloner und Bohrer die erste Begegnung in Chaloners Osnabrücker Dienst-
stelle.
Bohrer erzählte von Prag; Chaloner erläuterte sein Zeitschriftenprojekt: Er finde die deutschen
Tageszeitungen, die bis dato wieder zugelassen seien, sterbenslangweilig. Man müsse etwas viel Lebendigeres, mit
viel Hintergrund bringen, so etwas wie das britische Magazin „News Review" oder das amerikanische „Time". Chaloner:
„Wenn wir den Deutschen schon die Pressefreiheit bringen, dann aber gleich richtig."
Er blätterte mit seinem Gast jenes Urmagazin durch, das er im Frühling mit Hildegard Neef und anderen Mitarbeitern
zusammengestellt hatte. Es zeigte ein schwarz-weißes Titelbild mit dem britischen Außenminister Bevin bei einer
Ansprache, den Mund geöffnet wie ein luftschnappender Karpfen. Das „Dummy" trug die Überschrift „Diese Woche",
Ausgabedatum war der 29. März 1946, und der Preis betrug 1,- RM (Reichsmark). Alle Texte waren bereits in deutsch.
Mit Photos und einer Einfuhrstatistik garniert, zeigte es im Innern.
Bereits die magazintypische Einteilung in verschiedene Sektionen. Ein zweites Gespräch der beiden britischen
Soldaten fand auf dem Dümmersee statt, wo der flotte Major außer zwei Segelbooten auch ein Ruderboot für sich
requiriert hielt. An einem heißen Sommertag mußte Stabsfeldwebel Bohrer erneut antreten, und abwechselnd die Ruder
schwingend, befuh- ren beide stundenlang diskutierend das 15 Quadratkilometer große niedersächsische Gewässer. Es
war dies der eigentliche Stapellauf des Magazins.
Während der Kahnpartie einigte man sich über die Tedaktionelle Konzeption im einzelnen nach angelsächsischem
Vorbild. Bohrer schwitzte vom vielen Rudern und wagte nicht, das weiße Koppelzeug abzulegen. Am Schluß jedoch
jagte er, Steinhäger-beflügelt, das Boot mit einem furiosen Endspurt so an den Steg, daß der Major fast ins Wasser
fiel.
Der „Kindergarten", wie die überwiegend jugendliche Redaktion im Anzeiger-Hochhaus manchmal genannt wurde, konnte
sich keinen besseren Betreuer wünschen. Einmal schaffte Bohrer sogar auf einem Armeelastwagen 30 fabrikneue
Fahrräder für seine Schützlinge heran - alle beschlagnahmt im Namen Seiner Britischen Majestät König Georgs
VI.
Vom 14. Oktober 1946 an hieß es, zunächst einmal eine erste geschlossene Probenummer des Magazins so
fertigzustellen, als ob es in der nächsten Woche am Kiosk verkauft werden sollte. „Time"- und „News
Review"-Exemplare lagen als Anschauungsmaterial auf den Tischen; alle als vorbildlich erachteten Artikel wurden
ins Deutsche übertragen und auf die Konstruktions- merkroale der angloamerikanischen „Story", vor allem auf die
knappe, saloppe Sprache hin diskutiert.
Was als interessant und was als flott zu gelten hatte, bestimmte Harry Bohrer, der während des ersten knappen
Vierteljahres bei „Diese Woche" als ein Über-Chefredakteur agierte. Bohrer sah möglichst jeden Artikel selbst durch
und redigierte ihn.
Anhand der angloamerikanischen Vorbilder und der für die Probenummer diskutierten Themen mühten sich die Newcomer
tage- und nächtelang herauszufinden, was beispielsweise ein guter Geschichten- Anfang sei, der den Leser wie „mit
einem Lasso" fesselte und zum Weiterlesen animiere. Auslandsredakteur Willi Gerberding beispielsweise meinte,
„Aufgeht's im Bayerischen Landtag", das sei ein guter Beginn eines Themas im Deutschlandteil, da wolle doch jeder
wissen, was denn da weiter passiere. Bohrer legte ebenso Wert auf das „Lead", das heißt den Anfang, wie auf gute
Details, wie überhaupt eine Menge journalistischer Anglizismen die Debatte beherrschten.
So las sich das Lead des Probeartikels über Hermann Görings Gift-Selbstmord in Nürnberg: „Göring wühlte noch einmal
in seinem Juwelenkasten. Seine Blicke glitten liebkosend über zahlreiche Orden und die goldenen, mit Diamanten
besetzten Reichsmarschallstäbe. ,Dieser Ring ist ungefähr 240 000 RM wert', hörten die erstaunten Wärter ihn sagen.
Dann liest er wieder in Bengt Bergs ,Mit den Zugvögeln nach Afrika4, bis er plötzlich die Bitte äußert, man möge
ihm sein silberbeschlagenes Reisenecessaire bringen: Die frauenhaft weichen Hände hantieren mit Gesichtscreme,
Puder und Haaröl."
Oder eine von dem jungen Karl-Heinz Kallenbach geschriebene, zeitgemäße Geschichte über die standrechtliche
Erschießung eines befreiten polnischen Fremdarbeiters durch britische Soldaten, der bei Raub und Plünderungen sage
und schreibe 27 Menschen ermordet hatte: „Am 22. Oktober um acht Uhr folgte Theophil Wasalek einer Verabredung mit
zehn englischen Infanteristen und Freund Hein in einem ausrangierten Steinbruch. Wasalek stand dem
Exekutionskommando gegenüber."
Die Titelstory der ersten Probenummer maß insgesamt nur eine einzige Seite und teilte im Grunde kaum mehr mit, als
daß Sowjet-Außenminister Molotow samt Delegation die erste Friedensfahrt des einstigen Truppentransporters „Queen
Elizabeth" nach den USA mitmachte, um an der Uno- Konferenz teilzunehmen. Lediglich daß die „Queen" als erstes
Schiff im Frieden mit Radar fuhr, besaß einigen Nachrichtenwert.
Obwohl die Redakteure der Deutschlandredaktion bereits eine Tabelle vorbereiteten, in der Korrespondenten für
Mecklenburg, Sachsen und Thüringen mit Namen und Adressen eingetragen werden sollten - niemand konnte sich die
deutsche Zukunft anders als-gesamtdeutsch vorstellen -, schwante Augstein, daß eine Berichterstattung aus dem
sowjetisch besetzten Teil Restdeutschlands wohl nur auf konspirative Weise möglich sein würde.
Dem trug er später dadurch Rechnung, daß er einen hochkarätigen Journalisten, hauptamtlich Redakteur der
SED-Parteizeitung „Neues Deutschland", als geheimen Mitarbeiter anheuerte: Kurt Blauhorn lieferte unter Decknamen
aus dem Informationszentrum der Einheitspartei Hintergrundmaterial für so brisante Artikel des Magazins, daß seine
Chefredaktion und die Partei regelrechte Inquisitionen anstellten, um die Quelle aufzudecken. Ehe das aber gelang,
konnte Blauhorn entwischen und in der Zentralredaktion in Hannover die Arbeit aufnehmen.
Bei der Diskussion um die Konzeption der Zeitschrift spielten im Probestadium auch jene erfolgreichen kritischen
Blätter der Weimarer Zeit eine Rolle, an die Bohrer geistig anzuknüpfen empfahl. Dazu zählte „Die Fackel" von Karl
Kraus, ebenso, auf Hinweis Augsteins, die „Weltbühne" des nach seiner KZ-Haft umgekommenen
Friedensnobelpreisträgers Carl von Ossietzky. Die Zeitschrift, in der so berühmte Journalisten wie Kurt Tucholsky
und Erich Kästner geschrieben hatten, sei ein echtes Kampfblatt gegen Spießertum, Chauvinismus und den Ubermut der
Ämter gewesen. Das sei ein gutes deutsches Vorbild, das es mit der Machart des Newsmagazines zu kombinieren gelte.
Bohrer warnte allerdings in einem Punkt: Namensartikel der Autoren wie bei der „Fackel" und der „Weltbühne" könne
es bei „Diese Woche" nicht geben, persönliche Berühmtheit werde also kern Mitglied der Redaktion je erlangen.
Rudolf Augstein hielt sich zu dieser Ansicht bedeckt, meinte aber, auf jeden Fall müsse die
Zielrichtung ähnlich kritisch sein. Als vorbildliches Beispiel verwies er auf einen „Weltbühne"-Artikel unter der
Überschrift „Windiges aus der deutschen Luftfahrt", mit dem Ossietzkys Schreiber in den zwanziger Jahren aufgedeckt
hatten, wie die Flieger der Hunderttausend-Mann-Wehrmacht von Weimar durch geheime Übungen die Bestimmungen des
Friedensvertrages von Versailles unterlaufen hatten.
So etwas aufzudecken, meinte der junge Chef, demokratische Transparenz zu schaffen und überhaupt die Hohlräume
zwischen politischer Deklamation und tatsächlichem Handeln bloßzulegen, das müsse auch die Aufgabe des Magazins
werden. Und Augstein erfand gleich einen zugkräftigen Begriff, den er hinfort gern verwendet sah. Das
Nachrichtenmagazin neuen Typs müsse zum „Sturmgeschütz der deutschen Demokratie" werden.
Ihrer politischen Unschuld entsprachen die Blauäugigkeit und schlichte Unkenntnis der
Bohrerschen Jungmannschaft auf bestimmten Gebieten.
„Ich wußte nicht einmal genau, was eine Gewerkschaft ist", gab Augstein zu, „bis Bohrer mir ein Buch darüber
gab."
Der Wirtschaftsredakteur andererseits stellte in einem Probeartikel die Behauptung auf, der Sozialismus stamme aus
dem Osten. Marx und Engels waren bei der weltanschaulichen Schulung in seinem Hitlerjugend-Fähnlein 4 der
Nordstadt nicht behandelt worden; Bohrer klärte ihn über seinen Irrtum auf. Und bei dieser Gelegenheit rügte der
britische Ober-Chefredakteur in der freundlichsten Weise, die Formulierung „Um es gleich vorweg zu sagen" sei ein
recht beschissener Artikelanfang und keineswegs als Lese-Lasso anzusehen.
Titelbild der Probenummer 2 zeigte ein Photo vom schwarzen Markt, aufgenommen vor Hannovers
zerbombtem Hauptbahnhof, wo sich auch Redakteure Brotmarken „schwarz" besorgten. Den Aufmacher des Heftes
bildete wiederum ein echter „Augstein"; diesmal beschrieb der junge politische Redakteur, wie die Russen,
ausgerechnet nach dem Tag ihrer Wahlniederlage in Berlin, bei Nacht und Nebel Tausende von deutschen Technikern mit
und ohne Familie zwangsweise zur Arbeit in die Sowjet-Union verfrachtet hatten.
Schon dieser, nur in eine Probenummer aufgenommene Beitrag des späteren Herausgebers demonstrierte ein jetzt 40
Jahre geltendes Prinzip des Nachrichtenblattes: keinen berufemäßigen Antikommunismus! Im zweiten Drittel des
„Aufma- chers" nämlich befaßt sich Augstein mit der Kehrseite der Medaille, der Tatsache, daß die Westmächte sich
gleichfalls der Dienste deutscher Techniker versichert hatten.
Auch die zweite Ausgabe steckte noch voller mißglückter Versuche, witzig und originell zu sein, was sich vor allem
an den Artikelüberschriften und Bildzeilen ablesen ließ. Da hieß es zum Beispiel unter dem Photo von General
Anders, dem Befehlshaber der polnischen Exilarmee im Zweiten Weltkrieg: „Anders: Polen anders!", und über dem
Artikel, der kundtat, ein deutscher Kriegsgefangener mit dem Pseudonym „Vyll Glyk" habe in England einen
Literaturpreis gewonnen, stand: „Vyll Glyk hatte viel Glück."
Trotz aller Unzulänglichkeiten indes waren Rahmen und Inhalt der zweiten Probezeitschrift neuen
Typs für Deutschland erkennbar an jenem Grundprinzip orientiert, das Hans Uwe Magnus, Verfasser einer Dissertation
über „Time", so beschrieben hat:
Das Nachrichtenmagazin trifft eine Auswahl aus den Nachrichten einer Woche, die, in
festliegenden Sparten geordnet, anonym und uniform gestaltet, reichlich illustriert, durch einen eigenwilligen Stil
erzählend dargeboten, im Zusammenhang und vor einem Hintergrund geschildert und mit besonderer Zuspitzung und
Voranstellung ihres menschlichen und persönlichen Elements in meist kritischer Interpretation dargestellt
werden.
An Schlaf oder geregelte Arbeitszeiten konnte die Crew im Hochhaus während der „Probe"-Wochen
nicht denken: Abends spurtete Augstein mit seinen Mitarbeitern zu einem Imbißstand am zertrümmerten Steintor, der
zwar noch die Aufschrift „Bratwurst-Glöckle" trug, aber mangels Masse keinen Bratwurstduft verbreitete. Es gab
Muschelbrötchen und Heißgetränk, eine bonbonfarbene Flüssigkeit von fadem süßem Geschmack, oder sogenanntes
Molke-Bier.
Während die Hannoveraner wie ihre Mitbürger dem schlimmsten Hungerwinter der Nachkriegszeit entgegengingen,
herrschte Anfang November unter den Magazinern im Anzeiger-Hochhaus Premierenstimmung.
Sein Vater war Fabrikant photographischer Geräte. Während der Weltwirtschaftskrise 1930 verkaufte er die Fabrik -
sie steht heute noch - rechtzeitig. Dann war er Handelsvertreter und kaufte sich 1936 ein Photogeschäft. Man war
betont katholisch, lebte in der „Diaspora", und Rudolf Augstein, am 5. November 1923 als sechstes von sieben
Kindern in Hannover geboren, erfuhr eine „lückenlose katholische Erziehung" und räumt ein, daß diese ein
bestimmtes Muster hinterlassen habe. Wahrscheinlich auch, nachdem ihm mit 14 bis 15 Jahren erste Zweifel an seiner
Kirche kamen, ein bestimmtes Anti-Muster. Bruder Josef, später unermüdlicher Rechtshelfer, erinnerte sich kaum an
gemeinsame Erlebnisse. Er „hörte immer nur, was für ein großartiger Schüler Rudolf war; lauter Einser und so".
Als 1940, schon nach einem Kriegsjahr, Frankreich bezwungen war und Deutschland an allen Fronten zu siegen
schien.
|