Blaut dat trecket
Der Vater war aus dem Osten des Reiches, wo die weiten Ebenen sind und in den Nächten das
geheimnisvolle Raunen schlafender Ritter und Ordensleute zu hören ist, ein Stück weit nach Westen gerutscht, der
Sonne nach und wo er nun in Amt und Würde kam, dort führte er die Frau heim, die er liebte. Der Vater besaß den
Blick von Seeleuten, von Fischern und Kapitänen, die nach Schweden hinauf gesegelt waren und dann hatte er auch
den barschen, kurz angebundenen Ton der Soldaten am Leibe, der in jenem Lande seit langem den Männern
eigentümlich ist. Dort, wo er sein Leben verbringen sollte, rauschten braune Weizenfelder am Eichenhain und der
Zungenschlag der Mädchen war hier gefälliger als weit oben, wo schon eine östliche Stumpfheit die Herzen
verschloss. Bevor jedoch das erste Kind zur Welt kam, warf es den jungen Beamten ins Rheinland und hier krähte
ich an einem Ostermorgen tapfer drauflos.
Die Verhältnisse brachten es mit sich, dass ich niemals wieder in den Osten kam, noch in jenen südlichen Teil an
der Flanke des Reiches, aber stets hat mich in meinem Leben mehr die Sehnsucht nach der Heimat der Mutter als nach
der des Vaters erfüllt und hungrig gemacht. Daran mag es liegen, dass ich die Züge des Vaters nicht trug und auch
von seiner Art nichts abbekommen hatte als dies: auf den Straßen der Verzauberung still zu wandern und den
Pulsschlag des Lebens an der eigenen Herzwand klopfen zu spüren. Hier am Rhein wuchsen Berge aus der Erde, grüne
Hügel, bedeckt mit steinigen Getreideäckern und moosigen Waldgründen. Hier härtete Industrie nicht das Antlitz der
Landschaft. Hier war man arm und auf sich selbst gestellt, aber eine stolze Wahrhaftigkeit leuchtete über dem Lande
und die natürliche Hingabe an Gott, an die Arbeit und die Schönheit der Jahreszeiten erhellte den ödesten Tag.
Erst, als ich Soldat wurde, entließ mich das Rheinland nach dem von Meeren gebundenen Holstein und nun hatte ich
die Heimat der Mutter dazwischenliegen. Ich konnte an Daheim nicht denken, ohne jene im Sonnenbrand zitternden
Kornacker überfliegen zu müssen, dort wurzelte meine Sehnsucht – Erinnerung, aus verschütteter Kindheit angeweht.
Hier oben hörte ich den Schall der Meere, ich kostete ihren holzigen Brodem, fühlte erregend ihre Kraft, mit dem
Blick des Ostseefischers konnte ich über das grüne, glasige Wasser schauen, in Tiefe und blaujubelnde Höhe.
Zerissene Fäden verknüpften sich, alte Erlebnisse wurden wach. Auf dem Marsch, wenn wir das Gewehr geschultert und
den Stahlhelm aus der Stirn geschoben hatten, erregte mich die klirrende Geschäftigkeit, fahrender Ritter, die mit
kreuzbesticktem Mantel ins gelobte Land zogen. Ich war Templer, Fischersmann und Pflügender in einem. Ich hielt
Heerschau über meine Ahnen, hier im Geruch der See, im Anhauch der Stürme, die von dort kamen, wo ich einst gewesen
war, vor Hunderten von Jahren.
Im Manöver fügte es sich, dass unser Regiment just auf die Stoppelfelder befohlen wurde, über die einst Blick und
Liebe meiner Mutter geeilt waren. Aber ich kannte kaum die Namen der Höfe, auf denen meine Verwandten sitzen
mussten und ich litt unter einer Beglückung, die deshalb schmerzlich war, weil ich ohne Anruf und Erkennen an
meiner Sippe vorbeizuhasten fürchtete; denn mit einem Male und viel stärker als dort oben an der See, überkam mich
die Gewißheit der Zugehörigkeit: Hier wurde ich, hier ging das Schicksal vieler Menschen in mein Blut ein, hier in
dieser Erde schliefen die, denen ich mein Leben dankte.
Bei der ersten Gelegenheit nannte ich vorüberziehenden Bauern den Mädchennamen meiner Mutter, ob er ihnen vertraut
sei und siehe, die Sprache, in der man mir antwortete, war so sehr die Sprache meiner Erinnerung, dass ich vor
Freude bald aufgeschrien hätte. Und dann sagte ich auch, wer ich sei. „Krieck es... Heithus Lienken ehr Söhn.“ Es
wurde noch manches Hin und Her gesprochen und ich erfuhr genau, wo der Hof meiner Sippe lag und wie es dort
bestellt war.
Am nächsten Tag, der dienstfrei war, fuhr ich hin. Ich freute mich unbändig. Es war ein
herrlicher Spätsommertag, klar und blank, wie er in meiner Vorstellung lebte. Es begegnete mir nichts Fremdes.
Mir war, als wäre ich oft diese Wege gegangen. Ich kannte den Wald, der sich vor mir auftat, ich prüfte den Duft
und die Windungen des Flusses, ob sie die gleichen wären und ich tauchte mit meiner ganzen Seele so in diese
Landschaft ein, dass mir Gestalten und Vorgänge aus Erzählungen meiner Mutter unerhört lebendig wurden. Ich sah
die Russen ins Land einfallen, Schweden und französische Söldner, Heere wogten auf und ab, der große Napoleon,
Dürre und Hagelschlag, Flamme und Mord, Auswanderung und Heimkehr aus Amerika, Gerechtigkeit und Zorn. Alte
vergilbte Tagebuchblätter raschelten in meinen Händen. Ich wusste alles. Ich war mit dieser Erde schicksalhaft
verwandt, nie würde ich sie von mir abtun können.
Da lag der Hof. Breite hohe Mauern, Eichen und grüner Rasen, das rote Haus. Ich ging hinein. Ein
Wolfshund knurrte mir entgegen. Satte Wohlhabenheit hatte hier Platz. Hier war alles Form und Ursprung, in
Jahrhunderten hatte sich scheinbar nichts verändert. Einer Magd wollte ich bedeuten, wer ich sei und dass ich
den Hof zu besuchen gekommen wäre, mit dem trat aber eine junge Frau in die Küche, nahm ein Brot aus der Schürze
und legte es hin... Einen Herzschlag lang betrachtete sie mich, der ich still wartete. Dann ging sie auf mich
zu, die Hände vorgestreckt, ihre Augen forschten erschreckt und dennoch erstaunt in meinen Zügen. Sie ahnte
wohl, dass ich nicht einer Auskunft wegen so schweigend ihres Wortes harrte. Sie, die dastand, erst neugierig
entflammt, dann lächelnd und plötzlich voll einer jugendlichen Liebe, sie war – meine Mutter. Dieses Gesicht
lebte in mir. Ich erschrak darüber, wie wundervoll genau jeder einzelne Zug zu erkennen war und ich wusste nun
auch, dass wir niemals aneinander hätten vorrüberhasten können. Wir kamen aufeinander zu, die Hände der Frau
fanden meine Schulter. „Du büst Lienken ehr Söhn?“ Ich nickte. Ich war daheim. Und dann stürzten ihr Tränen ins
Auge, sie legte ihren Kopf an meine Schulter und sagte still: „Blaut – dat trecket“.
Ja, Schwester, du...
Erschienen 1938 in der Berliner Börsen-Zeitung
"Lieber Sohn, dieses Blut-und-Boden Artikelchen aus der Berliner Börsenzeitung für die ich lange
und erfolgreich geschrieben habe, fand ich bei meiner Schwester Irmgard. Man bat mich, für Magdalene eine Copie
herstellen zu lassen. Vielleicht interessiert es dich. Die Berliner Börseneitung war kein Nazi-Blatt, sie nannte
sich "Zeitung für nationale Politik, Wirtschaft und Kultur", das war nicht ganz so schlimm. Die Zeitung musste
1943 ihr Erscheinen einstellen. Heute schreibe ich nüchterner, anbei zwei kleine Geschichten.
Mit den herzlichsten Grüßen,
Bernd, Vater
2/87"
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