Keine Pause ohne die Feldflasche 1997

Mit dem guten alten Stück hat der Chef die Kriegsgefangenschaft überlebt.

Herr Kersten ist der Chef, ihm gehört die Firma, Kaffee & Tee, Im- und Export. Der Chef hat ein Büro für sich allein, einen Schreibtisch mit verschließbaren Fächern und eine Schreibkraft, die Alwine heißt. Alwine ist neunzehn Jahre alt und hat die Höhere Handelsschule besucht. In der Laienspielschar stellt sie die Gräfin Eulalia von Hopplahopp dar. Gräfin spielt sie gern, sagen die Leute. Mit ihrer Pferdeschwanzfrisur sieht sie entzückend aus, das muss man ihr lassen.
Um zehn machen sie Pause. Die Angestellten packen ihr Brot aus und fangen an zu essen, und die Tür zum Lager bleibt auf, weil Herr Kummernit im Türrahmen steht und Witze erzählt. Aus dem Lager dringt der Duft von arabischem Kaffee und chinesischem Tee in die Büroräume.
Auch der Chef legt eine Pause ein. Er entnimmt seiner Aktentasche eine Flasche, die mit grauem Filz überzogen ist. Er hat die Flasche aus dem Krieg mitgebracht, in den er als Sechzehnjähriger hineingeraten ist. Wenn er heute etwas trinkt, dann nur aus dieser Flasche, die seine Frau ihm mit Kaffee gefüllt hat.
„Mein gutes Stück" sagt Herr Kersten und zeigt die Flasche dem Fräulein Alwine mit dem Pferdeschwanz. Die Flasche stammt aus dem Krieg, so alt ist sie schon, und sie ist mit grauem Filz überzogen und hat Beulen. Ein Junge, den Alwine kennt und der in der Laienspielschar mitmacht, besitzt auch eine Feldflasche. Karlheinz gehört zu den Pfadfindern. Der heilige Georg zeigt ihm die Pfade durchs Weserbergland und durch den Odenwald.
Als Herr Kersten so alt war wie Karlheinz, musste er ein Gewehr tragen und stramm stehen vor jedem, der etwas zu sagen hatte. Herr Kersten hatte nichts zu sagen. Er musste ein Gewehr tragen.
Herr Kummernit, der im Lager das Sagen hat, behauptet, dass der Chef einen Tick hat, ein posttraumatisches Stress Syndrom, wenn hier jemand weiß, was das ist. Sein Problem ist die Feldflasche, die er aus der Kriegsgefangenschaft mitgebracht hat. Herr Kummemit sagt, er kann sie genauso gut über dem Sofa an die Wand nageln. Dort kann er sie auch betrachten und sich daran erinnern, was sie ihm bedeutet hat. Bei der Arbeit schmeckt ihm der Kaffee eben nur aus dieser Flasche.
Seine Frau weiß, was hinter der Flasche steckt, sagt Herr Kummernit. Der Krieg in Russland steckt dahinter, die Jahre im Bergwerk, die Jahre hinter Stacheldraht, die Jahre ohne Nachricht aus der Heimat, die verlorene Jugend und die zerstörte Gesundheit. In der Gefangenschaft war die Flasche sein einziger Besitz. Herr Kummernit stammt aus Ostpreußen, er weiß, wovon er redet.
Heute besitzt Herr Kersten ein Reihenhaus mit Gärtchen, eine Firma mit acht Angestellten, ein Auto und einen Schreibtisch mit verschließbaren Fächern. Im September wird Herr Kersten fünfundsiebzig. Dann will er seine Firma verkaufen.
Alwine geht mit einer Spardose umher und sammelt Spenden. Sie will dem Chef zum Geburtstag eine Warmhaltekanne schenken, in der Kaffee bis zu vier Stunden heiß bleibt. „Lass das", sagt Herr Kummernit, „er hat nun mal diesen Tick. Sie gehören zusammen, die Feldflasche und er. Sie hat ihm geholfen, Workuta zu überleben.“
„Workuta" wiederholt Alwine. Sie spricht das Wort aus, wie sie auch ein Wort für Seidenstrümpfe, Zahnpasta oder Brotaufstrich aussprechen
„Ja, Workuta", sagt Herr Kummernit, „nie gehört, was? Workuta liegt in Sibirien."