Es weihnachtet sehr
Wir Erwachsenen sind in Geschäften unterwegs, wir denken noch nicht an Weihnachten. Mag sein,
dasss uns aus einem Gedicht, das wir in der Schule gelernt haben, eine Zeile einfällt: »Von drauß' vom Walde
komm ich her; ichmussß euch sagen, es weihnachtet sehr!« Und »Lasst uns froh und munter sein und uns recht von
Herzen freun!« Unsere Kinder indes träumen von nichts anderem als vom Heiligen Abend.
Und wer steckt bereits mittendrin im Trubel? Die Dekorateure. Ihnen erklingt das Hosianna schon im August. »Unser
Stichtag ist der 23. November, der Tag nach dem Totensonntag«, betont der Chefdekorateur eines Warenhauses, »in der
Morgenfrühe dieses Tages muss die Dekoration stehen«. Pünktlich um acht Uhr des 23. November fangen die Ruprechte,
Nussknacker und Feen ihr mechanisch funktionierendes Leben im Schaufenster an.
Auf den Knopfdruck werden Zehntausende von farbigen Glühbirnen und Kerzen zum Leuchten gebracht. Modelleisenbahnen
fangen an zu schnurren, Autos rasen ihre Runden ab, Raumschiffe steigen an Nylonfäden auf und ab. Ein Plüschdackel
wackelt mit dem Schwanz, eine Prinzessin kullert mit den Glasaugen, ein Reh betört den Zuschauer mit seinen
Rehaugen. Das Fest hat begonnen.
Niemand, der vor diesen Schaufenstern weilt, ahnt, wie vieler Zaubereien es bedurfte, um diese Welt aus Lackfolie
und Sprühschnee herzustellen. Monatelang sind Pläne entworfen, geändert, verfeinert und endlich ausgeführt worden.
Die Losung der Dekorateure heißt »Stets etwas Neues schaffen«, und nun schaffe mal einer stets etwas Neues.
Der Dekorateur handelt im Auftrag der Firma. Er soll mit seiner Kunst den Käufer fesseln. Er soll ihn zur Kasse
locken. Der Unterschied zwischen Kunst und Kasse ist der, dass dem Dekorateur mehr am Knistern des Engelhaars als
am Klingeln der Kasse liegt. Der Dekorateur ist Künstler. Er schnippelt, sägt, knetet, bindet, malt, kleistert,
bohrt, nagelt, plättet, bügelt, fummelt und pfriemelt. Kurz, er vollbringt Wunder, die indes nur für den Tag
gedacht sind.
Wunder, die im Keller getan werden. In den Werkstätten dort unten klopfen die Hämmerchen und
singen sich elektrische Sägen durch Sperrholz, Pappe und Tiefziehfolie. Dort wirft der Leim Blasen auf, und im
Töpfchen schmatzt heißes Wachs. Watte wird gezupft und Glimmer verstreut, Blech geschnitten und Borkentapete
aufgezogen, Gips gerührt und Kiesel poliert, Rupfen genäht und Samt gebürstet, Goldband geknüpft und Karton
zersäbelt.
Es sind Materialien, die sonst niemand braucht. Tätigkeiten, die keiner ausübt. Es werden Tricks benutzt, die im
Schließfach lagern. Aus dieser Verbindung von Materie und Phantasie entstehen Knusperhäuschen, Skihütten,
Ritterburgen, Rathäuser, Bahnhöfe, Kaufmannsläden, Rauschgoldengel, Gartenzwerge, Hampelmänner, Seejungfrauen,
Blumen auf der Erde und Sterne am Himmel.
Aus Kunststoff werden mit dem heißen Faden Buchstaben gestanzt, mit Eiskristallen bespritzt und zu gängiger
Christbaumprosa verschnörkelt: »Wir haben Ihren neuen Farbfernseher«, »Wein erhöht die Feststimmung« und »Zum
Heiligen Abend die knackige Gans«. Die Buchstaben liegen auf einem Brett zum Trocknen. »Die Buchstaben«, sagt der
Dekorateur, »eilen nicht. Die Sprüche werden ohnehin bis zu fünfundzwanzigmal geändert.«
Die Buchstaben eilen nicht? Da schau her. Mir lag es auf der Zunge zu sagen, dass es auch die Gans, die knackige,
die zur Stunde in ihrem Stall das himmlische Hosianna schnattert, abwarten kann, bis sie gerupft wird und in den
Bräter kommt. Ich hätte es sagen können, nicht wahr? Aber ich sagte es nicht.
Aus: Main Echo, 24.10.92
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