Mein lieber Schulz
Ich habe einen Brief bekommen. Den Brief hat mein Vorgesetzter geschrieben von damals, als ich
Soldat war und mit meinem von Anophelesmücken angezapften Blut und meinem vom Militärismus zertretenen Herzen auf
einer Schreibstube im Heimatfrontgebiet Verfügungen ausdenken musste. Der Brief ist mit der Hand geschrieben, er
trägt am Kopf die Anschrift, das Datum, die Brieftagebuchnummer 526 und sogar ein Aktenzeichen, nämlich: P. K. Ich
vermute, das soll Privat-Korrespondenz heißen.
Herr Major machte sich die Mühe, mir zu schreiben. „Mein lieber Schulz . . ." Ich war bloß
Obergefreiter, und ich werde ganz rot vor Freude, dass Herr Major mir geschrieben haben, und beinahe hätte ich den
Brief fallen lassen, weil meine Hände nach der Hosennaht zucken. „Mein lieber Schulz . . .". Tscha,
und so weiter.
Beim Lesen stelle ich mir den Brief in ein Magnetophon gesprochen vor. In meinem Lautsprecher
würde er dann etwa so klingen: „Mein lieber Schulz, äh, will Ihnen einmal schreiben. Habe Namen in Zeitung gelesen,
tüchtig, tüchtig, gar nicht vermutet in Ihnen. Krieg leider total verloren. Kolossal unangenehme Geschichte. Äh .
. bedauere sehr Verlust der Lebensaufgabe. Besitze noch Reithose, Kaiserbild und Ordensschnalle. Bin auf
russischer Seite völlig enteignet. Hausen jetzt Schweinekerle auf eigenem Hof, ordinär, ordinär. Vorläufig nicht
zu ändern, äußerst schwierig Besatzungsmacht muss ertragen werden. Wohnen selbst in Hinterhaus, drei Treppen hoch,
regnet durch.
Erbitten Bericht, ob dort Lebensmöglichkeit. Direktorposten in Industrieunternehmen oder
seriösem Zeitungsverlag. Haha, werden uns schon durchrackern. Können
sich Bild machen, was?“
Können sich Bild machen, ja, Verzeihung, „jawohl, Herr Major". (Meine Hände zucken wieder an die
Hosennaht,
verdammte Angewohnheit). Herr Major waren damals Abteilungsleiter in einem Generalkommando,
Chef römisch zwo arabisch b. Herr Major befahlen bis zur letzten Stunde Bataillone und Regimenter in den Tod. Herr
Major erdachten bis zur letzten Minute Verfügungen, um kranke Soldaten und Soldaten, deren Wunden beim Exerzieren
aufbrachen, kriegsverwendungsfähig zu machen. Herr Major schickten bedenkenlos Tausende und aber
Tausende in ein sinnloses Verderben. Herr Major ließen sich zur Sicherung des
eigenen kostbaren Lebens einen Bunker bauen, der mit Stahl und Zement dreimal so dick gepolstert war wie der
sicherste Bunker der Parteispitzen in jener Großstadt. Und da saßen nun Herr Major und unterzeichneten Befehle, die
es den anderen, den Kv.-Geschriebenen ermöglichten, den Heldentod zu sterben.
Herr Major aßen gespickten Rehrücken und tranken roten Sekt dazu, wenn die anderen Kohlsuppe
fressen mussten. Herr Major fuhren sonntags zur Jagd, wenn die anderen mit der Panzerfaust im Arm exerzieren
gingen. Herr Major waren Großgrundbesitzer und Schnapsfabrikant, Aufsichts- ratsvorsitzender in Getreide und
Zucker, ehemaliger Stahlhelmführer, Feudalherr und gehasster Brotherr für alle, die ihm dienten. Herrn Major ging
es gut, kolossal gut, Herrn Major ging es ganz prächtig gut. (Können sich Bild machen, was?!)
Aber Herr Major sind nicht mehr Herr Major. Es gibt kein Generalkommando und keinen roten Sekt
mehr, kein Bratlingspulver für Mannschaften und Kv.-Befunde für Kriegsversehrte. Herr Major sitzen da im
Hinterhaus, drei Treppen hoch, gefärbte Reithose und Panzerhemd, ganz gelb vor Kummer und schrecklich ausgehöhlt.
Kerle machen nichts als Schwierigkeiten. Keiner putzt Stiefel. Essen ungenießbar. Mannschaften grüßen nicht.
Schweinerei. Müssen uns halt bequemen. An alte Kameraden appellieren. Brieftagebuch anlegen, schreiben, schreiben
. . . ohne Tritt, marsch! Aktenzeichen: P. K.
Herr Major erbitten also Bericht über Lebensmöglichkeit . . . hm.
Mein lieber Schulz. Das macht mich noch verrückt vor Stolz. Früher hieß ich „He!"und „Sie da!"
und „Hören Sie mal!" und „Herkommen!". Heute bin ich Schulz, Schulz schlechthin, und nicht nur das, sondern sogar
mein lieber Schulz. Ich berste vor Glück. Ich stehe Kopf über die Vertraulichkeit, die mir zuteil wird. Haha, wir
müssen viel besser zusammenhalten was? Schulz, alter Junge! Äh, werden uns schon durchrackern, Besatzungsmacht muss
erst abgerückt sein. Werde dann auch für Sie sorgen, Stellung in Wehrmacht oder ähnlichem. Besitze noch Reithose,
Kaiserbild und Ordensschnalle. Bei Bericht über Lebensmöglichkeit bitte Termin beachten. Am besten geheim halten.
Dringend. Schellhase, Major.
Bernhard Schulz, Neue Tagespost, Osnabrück 1946
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