Fensterplatz im Café 1967
Dem Sahnetörtchen folgt die Trauung auf dem Fuß
Es gibt Ehepaare, die sich erst im Café richtig kennengelernt haben. Das Café war ihr ständiger
Treff, solange sie unverheiratet waren, und dem Sahnetörtchen folgte die Trauung auf dem Fuße. Ich finde das ganz
in Ordnung; denn das Café stellt sozusagen einen neutralen Boden dar. Es geht hier in der Hauptsache um Süßes.
Heute treffen sich die jungen Leute in der Eisdiele und in der Diskothek. Dort hocken sie vor einem Fruchtsaft und
spielen Händchen halten, indes ihnen Mireille Matthieu und Johnny Cash das Neueste an Liebe singen.
Im Café wird nicht gesungen, und zwar deshalb nicht, weil soviel geredet wird. Wenn musikalisches überhaupt geboten
wird, dann mischt sich eine Hammond-Orgel in das Klingeln der Silber Löffelchen und des Porzellangeschirrs.
Oder ein Stehgeiger schluchzt das „Ständchen“ von Heykens und Boccherinis „Serenade“. Das Repertoire der
Caféhausmusiker ist seit dem Jahre Eintausend nach unserer Zeitrechnung völlig unverändert geblieben. Wir müssen
damit rechnen, dass in den kommenden Jahren Schiwagos süße Schnulze hinzukommen wird.
Das Musikalische läuft, wie gesagt, am Rande. Nicht einmal Kaffee und Kuchen sind wichtig, wie man doch erwarten
sollte. Man geht ins Café, um sich zu unterhalten. Man trifft sich dort. Man treibt kleine Geschäfte miteinander.
Man hechelt über diese und jene Person. Das Hecheln ist eine Wonne, die durch den Genuss von Schlagsahne und
Boccherinis „Serenade“ erheblich gesteigert wird.
Vor Jahren sah es so aus, als sei das Caféhaus im Absinken begriffen. Es erfüllte lediglich die Aufgabe
zweckgebundener Labsal. Die Gemütlichkeit war dahin.
Entweder lag es am Fernsehen, dass damals gerade entdeckt war, oder an der Verpflichtung der Prämienzahlung an die
Bausparkasse.
Jetzt, wo wir das Häuschen hoch, und das Fernsehen satt haben, gelüstet es uns nach dem Kontakt mit lebenden
Menschen. Es wäre eine Aufgabe für die Allensbacher Forscher, herauszufinden, aus welchem Grunde wir wieder
häufiger ins Café gehen.
Im Wiener Café alten Stils wurde Literatur gemacht. Die Tische waren mit weißem Marmor bedeckt, damit die Dichter
ihre Verse und die Komponisten ihre Noten darauf kritzeln konnten. Nachher wischte der Ober Franzl mit dem nassen
Lappen alles wieder fort.
Heute würden wir, gäbe es diese weißen Tischchen noch, Gehaltsansprüche berechnen, Automodelle entwerfen oder
Abendkleider skizzieren.
Die Stehgeiger sind geblieben, die Kritzeltischchen sind weg. Statt ihrer gibt es Wasserspiele, Aquarien,
Vogelbauer und Serviermädchen, und das ist auch ganz hübsch.
Außerdem haben die Cafés angefangen, ihren Betrieb in die erste Etage zu verlegen. Man muss die Treppe oder den
Lift benutzen. Am Fenster dort oben genießt man das wohlige Gefühl, überm Verkehr zu thronen und in Sicherheit zu
sein. Eine Tischlampe mit rotem Schein verbreitet Behaglichkeit.
Wenn die Adventszeit beginnt, werden die Serviermädchen den Tisch mit einem Gesteck aus Tannengrün schmücken. Ein
bisschen künstlicher Schnee ist dabei, eine honigfarbene Kerze und ein winziger Fliegenpilz. Kein Mensch weiß, was
Fliegenpilze mit Weihnachten zu tun haben, aber sie haben damit zu tun, es steht eisern fest.
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