Alban Sülz, Kutscher    1969

Die Geschichte vom alten Sülz hat mir mein Vater erzählt, der den Mann noch gekannt hat, das muss um 1910 gewesen sein. Meine Eltern hatten im Leben dieses Mannes Tugenden entdeckt, die geeignet waren, ihrem Sohn als Vorbild zu dienen. „Da hättest Du den alten Sülz erleben sollen“, war eine ständige Redensart meines Vaters, wenn es darum ging, mich zum Gehorsam zu erziehen. Der alte Sülz war gehorsam und vor allem bescheiden gewesen.
Er war von Beruf Stallknecht, Kutscher im Dienst eines Landarztes, der auch in der Nacht bereit sein musste, Patienten zu besuchen. Er kutschierte den Doktor, der in einer Ecke des ruckelnden Landauers die Zeitung las oder weiterschlief, zu entlegenen Gehöften hinaus, wo jemand im Sterben lag oder eine junge Mutter ein Kind erwartete.
Wenn der Kutscher vom Bock herabstieg, um den Schlag zu öffnen, nahm er die Mütze vom Kopf und nahm Haltung an, wobei er sogar die Hacken zusammenschlug, wie er es beim Militär im Umgang mit höhergestellten Personen gelernt hatte. Außerdem war der Arzt auch beim Militär gewesen, er ließ sich immer noch mit Herr Sanitätsrat anreden.
Der militärische Drill war erst der Anfang der bestechenden Eigenschaften des Kutschers. Der alte Sülz sagte immer nur, ja und amen, er sprach kein Wort zu viel, er laberte nicht dumm daher wie die meisten Männer, die mein Vater kannte. Sülz rauchte nicht, trank keinen Schnaps, verlangte nicht nach Freizeit, aß in der Küche die Reste auf und schlief nachts auf der Haferkiste im Stall. Indes der Sanitätsrat Sprechstunde hielt, grub Sülz den Garten um, bewässerte die Pflanzen, versorgte die Öfen im Haus, spaltete Holz und trug den Müll zur Kippe. Er las keine Bücher, bekam nie eine polizeiliche Verwarnung, grüßte den Pfarrer, reinigte seine Stiefel, schmatzte nicht beim Essen, forderte keine Lohnerhöhung, misstraute nicht der Staatsgewalt, putzte seine Zähne und hatte nicht die Absicht, Schützenkönig zu werden.
Er dachte nur Gutes über seine Mitmenschen, nahm Hänseleien gelassen hin, schob sich niemals in den Vordergrund, unterschlug keinen Hafer, spendete seine Groschen der Kirche, zweifelte nicht an den Taten des Gemeinderates, gierte nicht nach Ansehen, tat nichts gegen Haarausfall und wollte auch nicht nach Amerika auswandern.
Er war beileibe kein Dummkopf, sondern ein Tausendsassa. Er konnte Blumenbeete anlegen und Hecken beschneiden. Er balgte Hasen ab und schlachtete Hühner. Er vergiftete Ratten und fing Marder in Tellereisen. Er verstand sich darauf, Obstbäume zu veredeln und bei Ziegen den Euterbrand zu lindern. Er bekämpfte den Holzbock und kittete Glasscheiben ein. Er zog in der Küche die Weinflaschen auf und half der Köchin beim Tranchieren des Puters. Und all dies tat er ohne Aufsässigkeit und Gerede.
Alban Sülz war Veteran des Krieges 1870/71. Er hatte in diesem Krieg den Doktor, der als Sanitätsrat dabei war, als Bursche gedient. Wer aber für seinen Einsatz weder befördert noch mit einer Medaille belohnt worden war, hieß Sülz. Es macht ihm nichts aus, er blieb bei seiner heiteren Gemütsart und seiner ergebenen Haltung. Als er starb, hinterließ er nichts als seine neunundachtzig Jahre. Er hatte so anspruchslos und unbedeutend existiert, dass sein Tod von den Nachbarn nicht einmal bemerkt wurde.
Als nämlich der Sanitätsrat verschieden war und ein junger Arzt die Praxis übernommen hatte, wurde mit dem Landauer auch der Kutscher abgeschafft. Niemand kümmerte sich um den alten Sülz. Er durfte im Stall wohnen und schlief auf der Haferkiste unter Pferdedecken. Er sprach mit dem Gaul, den er gestriegelt hatte und der jetzt nicht mehr war. Er wendete ihm das Stroh, ließ den letzten Hafer in der Krippe durch die Finger rieseln, goss Wasser in den Trog, und tat so, als ob der Gaul noch am Leben sei. Er saß da und starb im Sitzen.
Die Köchin entdeckte den Toten. Sie sprach aus, was die Leute dachten, die den alten Mann gekannt hatten: „Er wird es bedauert haben, dass er der jungen Herrschaft nicht die Last ersparen konnte, ihn beerdigen zu müssen“.