Das gestohlene Christkind
Reinhold Plüschka muss heute sechzig Jahre alt
sein. Er ist Amtsgerichtsrat in einem dieser Städtchen voller Lebensmittelläden, Tankstellen, Kneipen und
Eisdielen. Die Eisdielen haben im Winter geschlossen, weil die Italiener nach Hause gefahren sind, und
Geschäftsleute aus der Nachbarschaft stellen in dem geschlossenen Raum Teppiche, Fahrräder und Nähmaschinen
aus mit dem Hinweis, dass diese Waren nebenan zu haben sind.
Ich war als Junge mit Reinhold Plüschka
befreundet. Die Eltern bewohnten ein kleines Fachwerkhaus mit einem Verschlag für Ziegen an einer Straße, die
Auf der Mühlenseite hieß. In alten Zeiten hatte hier eine Wassermühle ihr Schaufelrad gedreht. Ich erinnere
mich, dass Reinhold, der einziges Kind war, von seiner Mutter verhätschelt wurde, und es zeigte sich darin, dass
sie ihrem Sohn gelegentlich einen weißen Kragen umlegte. Wir anderen Knaben trugen nur weiße Kragen, wenn wir
zur Messe und zur Christenlehre gingen, aber Reinhold trat sogar bei Schützenfesten und beim Aufmarsch der
Ortsfeuerwehr mit weißem Kragen auf.
Diesen weißen Kragen hatte er mir voraus, und wenn es richtig ist, dass weiße Umlegekragen, wie
der Dichter Schiller sie trug, nachdem sie auch benannt sind, das Selbstbewusstsein stärken, dann soll sich
niemand wundern, dass er studiert hat und Richter geworden ist. Heute trägt er im Dienst eine schwarze Robe und
ist ein verehrungswürdiger alter Herr.
Damals, als er klein war und seinen weißen Kragen umhatte, geriet er wegen eines Diebstahls, der
kein Diebstahl war, ins Gerede. Es ging auf Weihnachten zu, und Reinhold wünschte sich einen Tretroller. Der
Tretroller blieb sein sehnlichster Wunsch, obwohl seine Mutter versucht haben soll ihm den Tretroller auszureden
und ihn auf den Gedanken zu bringen, dass ein Laubsägekasten ein viel wertvolleres Geschenk sei.
Die ganze Adeventszeit hindurch gab Reinhold sich damit ab, Zettel zu schreiben auf die er seine
Adresse setzte und folgenden Text: "Liebes Christkind, ich wünsche mir einen Tretroller. Bei Dahls im Laden
steht einer. Ich will auch immer lieb sein."
Die Zettelchen rollte er ein und versteckte sie überall, in Mauerritzen, Gewürztöpfchen,
Gebetbüchern und in Schubladen, die niemand aufzog. Er war sicher, dass die Zettelchen das Christkind im Himmel
erreichen würden.
Als der Küster wenige Tage vor dem Fest anfing, die Krippenfiguren, die auf auf dem
Kirchenboden standen, abzustauben, und dabei war, Tannengrün und Moos herbeizuschleppen, gelang es dem
Zettelchenschreiber, eins dieser Röllchen auch im Gotteshaus unterzubringen, er schmuggelte es ins Stroh der
Krippe.
Seine Hartnäckigkeit wurde belohnt. Er fand unter dem Christbaum tatsächlich den Tretroller, der
bei Dahls im Laden gestanden hatte.
Nie ist ein Junge mit weißem Umlegekragen
glücklicher gewesen als Reinhold Plüschka, Auf der Mühlenseite 7. Er rollerte bis um die Mittagsstunde des
ersten Weihnachtstages. Dann hatte er eine Idee. Du musst dem Christkind deinen Dank abstatten, sagte er
sich.
Er betrat die Kirche, stellte den Tretroller unter
das Weihwasserbecken, wo Tretroller ja sicher sind, und ging zur Krippe. Dort hob er das Christkind aus dem
Stroh, dieses Wachskind mit seinem Engelshaar, hüllte es in einen Wollschal und nahm es mit auf die Reise durchs
Dorf.
Bald kam der Diebstahl heraus. Ein Weiblein, das
vor der Krippe beten wollte, sah, dass die Wiege leer war. Ein Frevel war geschehen, eine
Todsünde.
Das Weiblein meldete es dem Küster. Der Küster
lief ins Pfarrhaus, wobei er einen seiner Zugstiefel verlor. Der Pfarrer rief den Ortsgendarm an. Der
Ortsgendarm setzte seinen Helm auf, schnallte den Säbel um und eilte zum Tatort. Dort nahm er Weiblein, Küster
und Pfarrer ins Verhör.
Seit wann verschwunden? Sind Zeugen vorhanden?
Name, Alter, Beruf. Und wie hoch ist der Schätzwert des entwendeten Gegenstandes?
"Herr Wachtmeister", unterbrach der Pfarrer die polizeichliche Protokollaufnahme, "Das
Christkind hat keinen Schätzwert, was fragen Sie da nur für einen Unsinn? Und das Christkind ist auch nicht
einfach ein Gegenstand, den man inventarisieren kann. Das Christkind hat Symbolwert, es ist ... "
Der Pfarrer wollte gerade anheben, dem
Wachtmeister zu erklären, was das Christkind sei, als das Kirchenportal sich knarrend öffnete, und herein kam
mit einem Bündel unter dem Arm der Knabe Reinhold Plüschka, Auf der Mühlenseite 7, den jedermann im Dorf
kannte, und außerdem war er ja der Einzige, der einen Schillerkragen trug.
„Was bringst du da?" fragte der Pfarrer verdutzt.
Ihm ging etwas auf, das Ähnlichkeit mit einem Weihnachtslicht hatte.
„Ich ... ich bringe das Christkind zurück",
antwortete Reinhold, „es hat mir den Tretroller geschenkt. Deshalb habe ich mit ihm eine Runde gedreht. Es soll
doch wissen, dass der Roller prima ist und dass ich glücklich bin."
War dagegen etwas einzuwenden? Der Pfarrer
schmunzelte; denn er war ein weiser Pfarrer. „Wir wollen es vergessen", sagte er.
Das Wachskind mit dem Engelshaar wurde vom Küster
behutsam untersucht und ins Stroh der Wiege gebettet, der Wachtmeister steckte sein Büchlein ein, das Weiblein
machte das Kreuzzeichen, und die Geschichte vom Knaben Reinhold, der das Gotteskind für eine Tretrollerrunde
mitnahm, wird heute noch im Dorf erzählt.
Diese Geschichte wie auch auf der vorigen Seite
die Geschichte „Vater war eben so" sind entnommen dem Buch des Verfassers: „Abend mit Zimtsternen", erschienen
im Verlag Eugen Salzer, Heilbronn.
Aus: Ruhrwort Jg. 19 / Nr. 52 / 24. Dezember
1977
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