Die Oper des Kleingärtners  

 

Der Gott der Zeit, welcher Chronos genannt wird, hat das Signal zum Einkochen geblasen. Die Arbeit der Kleingärtner, ihre ungezählten Spatenstiche, das Bücken nach Unkraut und der zermürbende Krieg mit den Schädlingen, diesen Partisanen im Gemüseland, hat Frucht angesetzt. Kein Spatenstich ist vergebens getan worden. Kein Kalistäubchen fiel auf unfruchtbaren Boden. Kein Pferdeapfel ging verloren. Die Sonne ließ alles mächtig reifen und schwellen. Gelobt sei der Regen, der sich in das üppige Grün ergoß... 

 

Nun ist es also so weit. Der Hausfrauen bemächtigt sich ein holder Wahn, eine sanfte Wut, eine erregende Mütterlichkeit, die aus den Urzeiten der Menschheit herrührt. Instinkt aus prähistorischen Tagen breitet sich aus und wirkt ansteckend. Die Futterkammer will gefüllt sein. Wer weiß, welcher Mangel uns im Winter bevorsteht? 

 

Die Küche verwandelt sich in eine Fabrik, in der Gasflammen prasseln und Quecksilbersäulen emporschnellen. Gesang kochenden Wassers erhebt sich aus den Niederungen der Küchenfron. Die Hausfrau, in derber Schürze und erbarmungslos gezügelter Locke, hat sich ihrer wahren Aufgabe besonnen. Ihr obliegt es, den Wintervorrat für die Familie sicherzustelllen. 

 

Von Küche zu Küche, von Balkon zu Balkon kräuseln die Düfte des Einmachens. Der Geruch des Obstes weht dahin und weckt die Trägen. Im Abendwind liegt bis in die Nacht hinein das Klingeln der Gläser in der Spülschiissel. Flaschen läuten. Weißblechdosen klirren. Es ist die Melodie des Herbstes, der Marschrhythmus der Konserven und die erhabene Oper des Kleingärtners. Er selbst, der Herrscher im Garten und Gebieter über tausend Pflanzen, in dem der Familiensinn zu einer Art flammenden Behagens entfacht scheint, sitzt in der geblümten Gummischürze am Tisch und entsteint Pflaumen, ein Denkmal ehelichen Friedens, ein Beispiel für häusliches Streben, ein Vorbild der töricht lächelnden Jugend. 

 

Vater schält Äpfel. Vater entkernt Pfirsich und Mirabelle. Vater schabt rote Möhren und schnitzelt Birnen. Vater erweist sich in allem als nützlich und begabt. 

 

Hier kann man lernen, was Eintracht ist. Hier enthüllt sich das Ethos einer Gemeinschaft, die beseelt ist von dem Willen, durchzukommen. 

 

Die Weckgläser voll dicker Bohnen, Erbsen, Kohlrabi, Blumenkohl und Pfifferlinge, voll Kirschen, Morellen, Blaubeeren, Stachelbeeren und Johannistrauben reihen sich auf dem Kellerbord aneinander. Welch ein Triumph für die Technik des Einkochens, wenn keines der Gläser aufgesprungen ist! Lauter Jubel preist den Haushaltungsvorstand, der mit kunstfertiger Hand die Saftflaschen vergipst hat. Diese Weckgläser sind eine Kundgebung für den Frieden; sie strahlen ein massives Gefühl von Sicherheit aus. Jetzt kann nichts mehr passieren... 

 

Im Winter, wenn der Garten draußen am Bahndamm längst im Regen liegt und Schnee die Scholle näßt, wird Mutter ein Glas nach dem anderen heraufholen. Der Gummiring wird sich zischend lösen. Mit einem Male wird dann die Küche wieder erfüllt sein vom Geruch des Sommers und Herbstes und vom Duft der Beeren und Früchte. 

 

Jene glücklichen Abende sind wieder da und jene Musik, die Opernmusik des Kleingärtners: Gläsergeläut und brubbelnder Dampf und Klingeling der Flaschen. 

 

Bernhard Schulz, 1953