Rote Rosen für Miss Greta
Als ich neun Jahre alt war, verschluckte ich mich beim Lachen über Bossemeiers Wilhelm, der
eine Zirkusnummer abzog, und die Folge war die, dass ich anfing zu stottern. Es hatte mir die Sprache verschlagen,
ich kri-kri-kriegte kein Wort mehr heraus, und meine Mutter war entsetzt.
Wenn ich diesen Fehler behalten würde, sagte sie, könnte ich später höchstens Gemeindebote werden wie
KomeckersAlwin,der im Krieg einen Arm verloren hatte und Invalide war. Der Doktor sagte, man müsse
Geduld haben mit mir, ich sei eben nicht der Typ, der sich Zirkusnummern anschauen sollte. Wenn ich in der Schule
aufgefordert wurde, ein Gedicht vorzutragen, stand ich vor dem Lehrerpult und vollführte mit dem Hals seltsame
Verrenkungen, wie ein Huhn, das einen Wurm gefunden hat und versucht, ihn zu verschlingen. Aber es handelte hier
nicht um das Kunststück, einen Wurm zu schlucken, was Schulkinder ja auch vollbringen, sondern um den Umstand, dass
ich nicht fähig war zu sprechen. Ich war im Dorf der einzige Knabe, der mit einem derartigen Gebrechen behaftet
war, und statt besser wurde es mit der Zeit immer schlimmer, so dass ich beschloss Schluss zu machen und mich
aufzuhängen, aber gottlob habe ich keinen passenden Strick gefunden oder was. Was mich an der Tatsache, dass ich
sto-sto-stotterte, am meisten verdross, war der Spott meiner Kameraden, die behaupteten, dass ich es im Leben zu
nichts bringen würde, es sei denn, ich ließe mich auf dem Jahrmarkt als „größten Stotterer der Welt“ für Geld
sehen. Im Traum erlebte ich dass ich auf einer Bühne stand und zum Vergnügen jener Leute, die gesund waren und
reden konnten, Stottererwitze erzählte, was mir, da ich ja ein großartiger Halsverdreher war, einigermaßen gelang.
Auf den Jahrmärkten ging ich umher und schaute mir die Monster an, die dort gezeigt wurden und aus deren Gebrechen
Profit geschlagen wurde. Ich versuchte herauszufinden, ob diese Menschen glücklich oder unglücklich waren, ob sie
lesen und schreiben konnten, ob sie Vater und Mutter hatten und ob sie bezahlt wurden für ihre Zurschaustellung.
Auf diese Weise begegnete ich eines Tages einer Person, als "dickste Frau der Welt" vorgeführt wurde. Miss Greta,
das stand auf einem Plakat, wog vier Zentner und war zwanzig
Jahre alt, ein Gebirge von Weib, das durch einen roten Vorhang auf die Bühne gewatschelt kam, wobei sie von zwei
spießigen Zwergen geschoben wurde. Die Zwerge kannte ich schon, sie hatten draußen vor dem Zelt Miss Gretas Hose
gezeigt, um das hochverehrte Publikum an die Kasse zu locken. Mit Paukenschlägen und Trompeten geschmetter wurde
das riesige Kleidungsstück entfaltet. Die Zwerge krochen auf der Bühne umher, kreischten und krakeelten,
verhedderten sich in der schmuddeligen Stoff= fülle, wickelten sich darin ein, buddelten sich heraus und machten um
Miss Gretas Hose einen verdammten Wirbel.
Die Leute strömten ins Zelt, um die dickste Frau der Welt zu sehen. Miss Greta saß auf einer
drei Meter breiten Holzbank, die eigens für sie hergestellt und mit Bandeisen verstärkt worden war. Ein Mann in
einem roten Frack und mit einem Zylinder auf dem Kopf gab sich als Impresario aus. Er sagte, dass Miss Greta
keinerlei Arbeit verrichten könne, weil sie zu dick sei und ihre Muskeln keine Kraft hätten und sie müssen sogar
gefüttert werden. Das Füttern besorgten die beiden Zwerge. Sie
kletterten mit Hilfe einer Treppenleiter auf Miss Gretas Ober Schenkel und löffelten gelblichen Brei in einen Mund,
der klein und rot war wie bei einer Puppe. Auch bei dieser Veranstaltung gab es wichtigtuerisches Geschrei und
Gefuchtel und Miss Greta rülpste nach jedem Löffel. Dies alles ängstigte mich, und ich fragte mich, ob ich als
größter Stotterer der Welt wohl auch meinen Brei verdienen würde. Stottern war wohl doch nicht halb so aufregend
wie diese vier Zentner Lebendgewicht und die beiden Zwerge, die hier Pfund um Pfund verkauften. „Miss Greta wurde
als Kind armer Eltern geboren“ tönte der Impresario durch einen Trichter, den er aus dem Zylinder zog, „ihre Mutter
starb an Tuberkulose. Der Vater erhängte sich im Gefängnis. Greta litt an Elephantiasis, das heißt an
Lymphstauungen. Sie wurde dich und dicker und eines Tages erschien eben dieser Impresario, der Greta mästete und
aus ihr eine Schaunummer für den Jahrmarkt machte. Zur Schaunummer gehörte auch, dass aus dem Publikum ein Herr
aufgefordert wurde, auf die Bühne zu kommen um Miss Gretas Fleisch anzufassen. „Meine Herrschaften schrie der
Impresario, „dieser ehrenswerte Herr wird bezeugen, dass wir keinen Schwindel treiben, Miss Gretas Fleisch ist
echt, wiegt vier Zentner und ist zwanzig Jahre alt.“ Und diese Worte machten die ganze Sache noch viel
schlimmer.
Die Dame tat mir Leid. Ich wünschte mir soviel Geld, dass ich die dickste Frau der Welt aus den Händen dieses
Scheusalhalters befreien könnte. Ich würde sie in einem Heim unterbringen. Aber alles, was ich besaß, war die
Fähigkeit, meinen Hals zu verrenken und zu stottern, und dafür gab mir niemand einen Groschen. Andern Tags, bevor
der Jahrmarkt abgebrochen wurde und die Schausteller weiterzogen, schnitt ich im Garten meiner Eltern rote Rosen ab
und legte sie auf das Treppchen, dass zum Wohnwagen der dicksten Frau der Welt emporführte. Auf ein Kärtchen
schrieb ich die Worte: „ Für Greta. Von einem, der leidet“.
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