Wo die Lerche singt
Heute steht in der Zeitung, dass die Stare angekommen sind. Wenn
die Stare da sind, kommen auch die Weidenkätzchen und die Schneeglöckchen und die Krokusse. Gemeldet wird auch
der erste Schmetterling des Jahres. Es ist ein Zitronenfalter und gehört zur Gattung der Weißlinge. Ein Rentner
hat ihn in einer Streichholzschachtel zur Redaktion gebracht, und der Redakteur hat sofort einen Artikel über
den Schmetterling geschrieben. Wir Leser des Lokalblattes fangen um diese Zeit an, über Ereignisse zu reden,
die mit dem Frühling zu tun haben.
Heute zum Beispiel ist ein sehr milder Tag. Ich bin nach dem
Mittagessen in meinen Schrebergarten gegangen, der am Bahndamm liegt. Ich habe meiner Frau abends davon
erzählt, wie sehr ich es genossen habe, mit dem Spaten ein paar Stiche in die Erde zu tun. Dann habe ich auf
der Bank in der Sonne gesessen und eine Flasche Bier getrunken, und die Reisenden im Intercity haben gedacht,
da sitzt einer in der Sonne und trinkt sein Bier.
Im Bürgerpark rücken die jungen Mütter die Kinderwagen in die
Sonne, und es ist fast überhaupt kein Wind zu spüren, sondern nur die seidenweiche Luft des Frühlings. Eine
alte Dame hat ihren Vogelkäfig mit in den Park gebracht. Der Vogel ist ein Wellensittich und heißt
Hansi.
Mein Nachbar ist ein Buchhändler, ein freundlicher Mann, der
seinen Kunden gelegentlich preiswerte Angebote macht. Heute handelt es sich um ein Werk über den Zweiten
Weltkrieg. Es enthält zahlreiche Illustrationen, Kartenskizzen und Panorama-Farbtafeln der bedeutendsten
Schlachtfelder. Das Werk hat bisher achtundvierzig Mark gekostet und ist jetzt vom Verlag auf neunzehn Mark
achtzig herabgesetzt worden. Der Buchhändler sagt, dass sich niemand mehr für den Zweiten Weltkrieg
interessiert.
Der Buchhändler und ich, wir haben beide den Zweiten Weltkrieg
mitgemacht, deshalb duzen wir uns. Wir sind alte Kameraden. »In Russland«, sagt der Buchhändler, »kommt der
Frühling über Nacht. Über Nacht beginnt die Schneeschmelze. Wir lagen im Mittelabschnitt vor einem Dorf, das
Kaminka hieß. Von beiden Seiten schoß die Artillerie in den Ort. Es war ein Tag, an dem, ähnlich wie heute, die
Luft seidenweich dahinfloss und die Erde nach Frühling roch. Verstehst du, was ich meine?«
»Aber ja doch«, erwiderte ich, »ich weiß, wie Erde schmeckt.« Der
Buchhändler sah mich prüfend an, als wolle er sich überzeugen, dass ich der Wiedergabe seiner Erinnerungen
würdig sei.
»Das Erregendste an diesem Tag vor Kaminka«, fuhr der Buchhändler
fort, »das war nicht die Schneeschmelze, sondern dieser weite russische Himmel, der voller Lerchen hing. Es
müssen Tausende gewesen sein. Nicht beeindruckt von Detonationen, Feuersäulen und Rauchwolken stiegen die
Lerchen zum Himmel empor. Sie ließen sich nicht von ihrer Aufgabe abbringen, den Schöpfer zu loben. Den
Schöpfer des Himmels und der Erden, wie es in der Bibel heißt. Während der kleinen Pausen, die zwischen
Abschuss und Einschlag entstanden, lauschten wir dem Lied der Lerchen.« Er schluckte ein wenig, und dann sagte
er: »Soll ich dir mal was sagen?«
Ich nickte, einverstanden, und der Buchhändler sagte: »Zu keiner
anderen Zeit im Krieg habe ich so schlimm unter Heimweh gelitten. Ich sehnte mich nach dem Dorf zurück, in dem
ich aufgewachsen bin, zurück nach den Feldern, über denen im März ja auch die Lerchen sangen. Die Lerchen
bestärkten mich in der Hoffnung, dass der Krieg nicht ewig dauern würde und dass ich eines Tages heimkehren
dürfte.«
»Und das Buch über den Krieg«, ich deutete auf das Sonderangebot
im Schaufenster, »werden die Lerchen in dem Buch erwähnt?«
»Mann, wo denkst du hin«, antwortete der Buchhändler, »Lerchen
sind doch ganz unwichtig.«
Aus: SoBl Ostfildern April 1938
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