Prost am Abend
Bernhard Schulz
Das Licht ist Trost. Durch die Dunkelheit tasten die Scheinwerfer
der Autos. Rote Katzenaugen blitzen an den Fahrrädern. Die gelben Pedalen, die rhythmisch auf- und
niedersteigen. Eine Straßenlaterne. Das Neonlicht in einem Blumenladen.
Wasser rinnt über die Scheibe, hinter der Chrysanthemen und Orchideen blühen. Die Schaufenster sind Trost. Die großen Auslagen der Textilhäuser und Lebensmittelgeschäfte.
In diesem Winter trägt man Braun. Whisky aus Schottland, Ananas aus Hawaii, Hummer aus Helgoland. Die Stimme ist
Trost. Ein Mann mit einer Taschenlampe sucht nach der Hausnummer 27 a. Vielleicht ist er Arzt, und jemand liegt
da oben und stirbt. Das Gesicht eines Mädchens weht vorbei. Leuchtschrift: Abendkurse in Stenographie und
Schreibmaschine.
Fünf Tage nach Paris. Flugreise nach Teneriffa. Weihnachten in
Tunis. Auskunft erteilt das Reisebüro. Die Wärme ist Trost. Dunst, der aus dem Kellerschacht einer
Speisewirtschaft steigt. Föhn, der aus der Pendeltüre eines Cafés dringt. Herdfeuer in Küchen mit Kaffeeduft und
Backofengeruch. Die Wärme einer Kinderhand. Die Behaglichkeit ist Trost. Die heiße Luft im Treppenhaus einer
Behörde. Wohlige Wärme in Wartezimmern und Kneipen, in Straßenbahnen und Omnibussen. Die Vertrautheit einer
Wohnstube. Das Radio spielt eine Sonate von Beethoven. Eine Teetasse zwischen den klammen Händen. Die Glut einer
Tabakspfeife. Der Regen ist Trost. Regen, der auf Autodächer und Zeltplanen trommelt. Regen, der den Asphalt
nässt und die Bäume weinen macht. Bindfadenregen über kleinen Gärten. In einer Laube stehen und den
Fernschnellzug dahinglitzern sehen. Die Lokomotive ist morgen früh in
Basel oder in Mailand oder in Wien. Der Schrei einer Krähe ist Trost, die Blockflöte einer Schülerin, das Weinen
eines Kindes, die Geräusche eines Motors, das Telefon, die Türklingel, das Summen des Wasserkessels, der Wind im
Kamin, der Schritt eines Mannes auf dem Bürgersteig, die Hupe eines Autos. Orgelmusik aus einer Kirche, das
Tikcken der Uhr. Niemand ist ganz allein.
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