Latein beim alten Dresbach 1981
Eines Tages kam meine Mutter auf den Einfall, dass ich die lateinische Sprache erlernen sollte,
damit ich eine Chance hätte, Kardinal oder doch wenigstens Pfarrer zu werden. Sie träumte davon, in einem Pfarrhaus
zu wohnen und ihrem geistlichen Sohn den Haushalt führen zu dürfen. In einem Pfarrhaus leben, das bedeutete Brot
und Wärme und Geborgenheit im Himmel.
Im Dorf gab es keine Höhere Schule. Außer dem Pfarrer und dem Arzt war niemals jemand mit der lateinischen Sprache
in Berührung gekommen. Und für die Unterbringung in einem Internat fehlte das Geld. Wir besaßen nicht einmal einen
reichen Onkel in Amerika, dem daran gelegen gewesen wäre, Gutes zu tun.
Du lieber Himmel, wer bringt meinem Sohn die lateinische Sprache bei? Meine Mutter meinte es gut, und so wurde sie
nach einem umständlichen Gespräch mit dem im Ruhestand lebenden Lehrer Johann Dresbach einig, daß er mir für
Gotteslohn, das heißt umsonst, Unterricht in der lateinischen Sprache erteile.
Herr Dresbach lebte in einem Nachbardorf. Er war ein würdevoller, schöner, alter Mann, der in der Gemeinde
legendäre Achtung genoss. Neben seinem Amt als Organist der kleinen Kirche stand er dem gemischten Chor Harmonie
als Dirigent vor. Er war Mitglied des Gemeinderats, Vertrauensmann der Ortskrankenkasse, Vorstandsmitglied der
Spar- und Darlehnskasse und Beisitzer des Vormundschaftsgerichts. Er war es gewesen, der die Sterbekasse und den
Heimatverein gegründet hatte. Für seine Verdienste war er mit dem kirchlichen Orden »Pro ecclesia« und dem
weltlichen Orden »Pro patria« ausgezeichnet worden.
Ich habe den alten Herrn mit seinem schlohweißen Kopf nie anders als in einem schwarzen Cutaway gesehen, den seine
Töchter geringschätzig den »Kött« nannten. Zum Kött trug er einen schwarzen Querbinder und ein riesenhaftes buntes
Bauerntaschentuch, das er aus irgendeinem Grund stets in der Hand hielt.
Drei Jahre lang bin ich nachmittags - außer in den Ferien - sechs Kilometer hin und sechs Kilometer her durch Wald
und Acker und Wiese, über eine löcherige Landstraße, die mit Apfelbäumen gesäumt war, zur Lateinstunde getrabt.
Aqua das Wasser, vinum der Wein, scher dich zum Teufel, verfluchtes Latein.
Wenn ich ankam, erhob sich der Rektor i.R. vom Mittagsschlaf, nahm in einem Biedermeiersofa Platz, indem er die
Rockschöße sorgfältig glättete, und fing damit an, mir und vorübergehend einigen anderen Knaben, die ebenfalls
Kardinal werden sollten, Latein beizubringen.
Er schwang zur Betonung seiner Aufgabe und vielleicht auch deshalb, weil er es als Dirigent gewöhnt war, ein
hölzernes Lineal. Beim Abfragen der Vokabeln klopfte er damit auf den Tisch, und bisweilen geschah es, dass er
einem der zukünftigen Kardinäle das Lineal auf den Schädel schlug: »Sickert denn da wirklich gar nichts hinein?«
Aber sofort erinnerte er sich, dass er ein guter Mensch war. Er stand auf und schenkte jedem von uns ein
Malzbonbon, und der Unterricht war zu Ende. Wir nutzten diese Schwäche aus und fanden, dass ein Malzbonbon besser
schmecke als Weisheit.
Eine Zeitlang war ich sein einziger Schüler. Die anderen hatten es aufgegeben, an ihre geistliche Zukunft zu
glauben. Herr Dresbach muss überzeugt gewesen sein, dass auch in mir kein Kirchenlicht zu erwecken war. Mitten im
lateinischen Text entglitt das Lineal seiner Hand. Der würdevolle, schöne, alte Mann schlief ein.
Ich saß ihm gegenüber und betrachtete voller Ehrfurcht seinen schlohweißen Kopf und sein zufriedenes Gesicht, das
vom Atmen bewegt wurde. Leise erhob ich mich vom Stuhl und meldete den Töchtern in der Küche, dass der Herr Rektor
eingeschlafen sei.
In meiner Erinnerung ist das Bild dieses Mannes mit den Ereignissen um Ostern verknüpft: Orgelklang tönt aus der
kleinen Kirche, der gemischte Chor hat Probe, auf der Fensterbank im Wohnzimmer stehen Narzissen, und über den Flur
duftet es nach Braten, der von den Rektors Töchtern unermüdlich begossen wird. Vielleicht hängt es auch damit
zusammen, daß Johann Dresbach an einem Ostermorgen, als die Frühmesse soeben zu Ende war, von der Orgelbank
hinabsank und tot war.
Es lag nicht an ihm, dass ich kein geistlicher Herr geworden bin. Ich glaube, dass mir von Anfang an nicht zustand,
mehr zu sein als jemand, der schreibt.
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