Keine Fahne für 1.FC Köln (1964)
Von einem, der von Fußball keine Ahnung hat
Unser Feuilletonist Bernhard Schulz besuchte das Spiel Hannover 96 gegen 1.FC Köln.
Am Freitag ruft Hartwin Kiel, unser Sport-Boß, in meinem Büro an: „Haben Sie schon mal ´n Fußballspiel gesehen?“
Ich sage: „Nein. Ich gehe nur zu römischen Wagenrennen. Aber die gibt es ja nicht mehr.“ „Haben Sie Lust, nach
Hannover zu fahren? Zu einem Bundesligaspiel? Hannover 96 gegen 1.FC Köln.“ „Was soll ich da?“ „Schreiben. Über das
Kleine und Große Drum und Dran.“ „Was heißt ‚Bundesliga‘, und was ist „FC?“. Schweigen. Dem Boß hat’s die Sprache
verschlagen. Oder dem Telefon ist der Draht gerissen. So blöd ist den beiden noch nie jemand gekommen. „Was ist
nun? Fahren Sie? Sie sollen nur erzählen, was Sie als Feuilletonist dabei erleben.“ „Wieviel Zeilen?“ Keine Antwort
mehr. Hat eingehängt der Sportsfreund.
Am Sonnabend fahre ich nach Hannover, heiter und zuversichtlich, wie Feuilletonisten so sind. Aber erst ordentlich
essen, denke ich. Und eine Tasse Kaffee kann auch nicht schaden. Im Bahnhofsrestaurant ist ein Fensterplatz frei.
Um den Landesvater schwirren Tauben und Halbwüchsige. Ich verzehre ein Schnitzel mit Salat, bevor ich es wage,
jemanden die Frage zu stellen: „Wo liegt das Stadion!“
Langsam rantasten, sage ich mir. Mit Fußballern muß man vorsichtig sein. Die verstehen uns Feuilletonisten nicht.
Aber der Kellner ist kein Fanatiker. „Sehen Sie die jungen Leute drüben?“, sagte er, „die mit den Fähnchen und
Strohhüten und Kuhglocken? Die marschieren zum Kampfplatz. Gehen Sie man immer hinterher!“
Kampfplatz? Zwei Stunden vor Spielbeginn bin ich da. Die Reihen sind schon fest geschlossen. Lauter Männer. Hie und
Da ein weibliches Wesen, aber ohne Kuhglocke. Eine Stimme im Lautsprecher versichert, daß es bereits 50 000 sind
und daß noch 25 000 Fußballfreunde erwartet werden. „Stehplätze zusammenrücken, immer noch ein bißchen
zusammenrücken, damit alle Platz finden. Und nicht auf den Rasen treten.“ Inzwischen hat das Vorspiel begonnen, das
den bereits 50 000 anwesenden Herren Gelegenheit zu einer Generalprobe bietet. Man lärmt mit Glöckchen, Rasselchen,
Trommelchen, Autohupen, Jagdhörnern und Fahrradschellen. Man räuspert die Kehlen und schwenkt die Fähnchen.
Haa-ess-vau…haa-ess-vau…haa-ess-vau…Das spornt den Nachwuchs zu munterem Treiben an.
Vor den Toren des Stadions hat indes die große Stunde von Coca-Cola und Ahrbergs Würstchen geschlagen. Der
Jahrmarktgeruch von gebrannten Mandeln weht über den Platz. Schokolade, Zigaretten, Eis. Berittene Polizisten
verhindern durch bloße Anwesenheit Messerstechereien und Taschenraub. Im Sog der 75 000 verkauften Eintrittskarten
wirken diese lebenden Standbilder wie Felsen in der Brandung eines Ozeans. Tonnen von Papier rieseln zu Erde:
Zeitschriften, Programme, Spielpläne, Pappbecher, Bratwürstchenteller, Obsttüten. Eßt mehr Bananen, und HSV wird
siegen. Trinkt mehr Apfelsaft und der deutsche Meister ist Euch gewiß. 74 999 Männer sprechen, brüllen, weissagen,
diskutieren, trommeln, rasseln, trompeten, klingeln, singen für den Sieg von Hannover 96.
Für den Gegner brüllt niemand. Die Kölner tun mir leid. Kein Rasselchen tönt zu ihrer Ehre. Kein Trommelchen stärkt
ihnen das Rückgrat. Kein Fähnchen rührt sich ihrem moralischen Beistand. Wenn es in dieser tobenden, kochenden,
rumorenden Menge einen einzigen Kölner gibt, dann macht er sich jetzt unter seinem Sitzplatz ganz
klein.
16.00 Uhr. Es geht los. Die Kölner traben ins Stadion. Gnädiger Beifall, der sich beim Auftritt der Hannoveraner
zur orkanartigen Begrüßung steigert. Haa-ess-vau…haa-ess-vau…Es gab Jahre, da sich zu spielen der 96er nur 3 000
Zuschauer hier im Stadion einfanden. Heute sind es 75 000. Ein Hexenkessel, in dem der Sieg des hannoverschen
Vereins gargekocht wird. Das Publikum sorgt für die Zutaten. Fähnchen, Lärm, Sprechchöre. Es muß den Kölnern Spaß
machen, folgendes zu hören: „Pi-pa-po, die Kölner gehen k.o.“ Oder: „Ri-ra-raus, die Kölner gehen nach Haus.“ Es
ist keine feine Art, aber sie ist sehr wirkungsvoll.
Unter den Sitzreihen ist der Boden ausgelegt mit Tausenden von gedruckten Farbfotos, die die Kölner Mannschaft mit
heiterem Lächeln auf den sportlich gebräunten Gesichtern zeigen. Ein Spieler wird sogar in Einzelaufnahme
vorgestellt, nämlich der Brasilianer José Ze’ze‘, den sie gar nicht mitgebracht haben, weil er ihnen zu pomadig
war. Das Foto kündigt ihn noch als interessanteste Neuerwerbung an. Der Ausdruck „erwerben“ beschwört peinlich den
Eindruck von Menschenhandel.
Zwei Tore sind gebucht. Hannover steht Kopf vor Begeisterung. Der Einsatz war nicht vergebens. Fähnchenschwenken
hilft immer. Die Kölner lassen die Ohren hängen. Das Rückgrat hängt ihnen lappig zum Trikot heraus. Der rheinische
Frohsinn geht unter im Pipapo und Riraraus. Und jetzt kommt es besonders saftig. Es ist der Spotlust grausamster
Einfall. Das Stadion brüllt: „Wumbawumbawumba Täteräh, Wumbawumbawumba Täteräh…“ Der deutsche Meister 1964 geht mit
einem Karnevalsschlager in die Knie.
Wumbawumba…Köln resigniert. Hannover hält an den beiden Toren fest. Geplänkel ohne Spannung. Ich habe Muße,
den Schiedsrichter anzuschauen. Im Programmheft steht, daß er Sparing heißt. Er sieht aus wie der Filmschauspieler
Ernst Schröder. Ein viereckiger, schwerer Mann mit dem dramatischen Gehabe eines Vaters, der seinen Sohn erzieht.
Bohrt Kindern den Zeigefinger ins Herz, redet mit Händen und Bauch, ermahnt, droht, zürnt. Bläst sich zum
Stabsfeldwebel auf. Zieht Notizbuch und Bleistift aus der Brusttasche und schreibt unter dem ungeheuren Jubel von
75 000 Obergefreiten die Schmeicheleien und die Namen der betreffenden Spieler auf. Es kommt immer wieder zu
erregten Szenen, die Zeitgewinn jedoch kein neues Tor einbringen.
Dann streicht ein Eiszapfen sachte über das Genick von 75 000 Menschen: „Herr Lewandowski aus Duderstadt soll
sofort in einer dringenden Angelegenheit seine Frau anrufen!“ Was ist denn so dringend, daß es hier verkündet
werden muß? Ist ein Kind tödlich verunglückt? Ist das Heim abgebrannt? Hat die Polizei ein Verbrechen entdeckt? Das
Schicksal hat sich soeben eingemischt.
Noch zehn Minuten bis Spielschluß. Es tut sich nichts mehr auf dem Rasen. Die Spannung ist dahin. Langeweile
breitet sich aus. Man erwartet nicht mehr, daß der Gegner sich zu einem Ehrentreffer aufrafft. Die Masse reckt
sich. Die Fähnchen werden eingerollt. Aufbruch. Die Stimme im Lautsprecher ordnet bereits den Ausmarsch an. Seit
schön brav. Schont den Rasen. Rasen kostet Geld. Herr Meier von der Mineralwassergesellschaft hat einen Fußball
gestiftet.
Noch acht Minuten. Parkplätze sind durch Ausgang A und B zu erreichen. Wir bitten dringend den Anweisungen der
Ordnungshelfer Folge zu leisten. Vorsicht bei umherfliegenden Flaschen. Der Verein haftet nicht für…
Noch fünf Minuten. Noch drei Minuten. Noch eine Minute Punkt. Pfiff. Aus. 2:0 für Hannover 96.
Wumbawumba…Täteräh…
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