Geschenk der Erinnerung

Gruß eines Engländers an Hans Carossa

Es mag Ihnen wohl seltsam vorkommen, dass ausgerechnet ein Engländer zur Feier Ihres Geburtstages von einer deutschen Stadt erzählt. Wie so viele andere ist diese schöne Stadt aber zum größten Teil vernichtet, und bald werden wohl nur wenige Menschen am Leben geblieben sein, die von ihrem ehemaligen Glänze noch reden können. Und ehe es so weit ist, möchte ich der lieben Stadt jene Worte nachrufen, die Faust zum Augenblicke sagen wollte: Verweile doch, du bist so schön! Zudem ist noch zu bedenken, dass die Jugend in Zukunft nicht mehr wissen wird, wie es noch vor wenigen Jahren in ihren eigenen Städten aussah. Und es scheint mir deshalb ganz angebracht, dass ein Engländer deren eine, wenn auch bloß in der Phantasie, auferstehen lassen will. Auf diese Weise also schenke ich Ihnen, verehrter dieser Welt kennt, der Weisheit letzter Schluss: Nicht zu vergessen nämlich, woher man gekommen ist... In Osnabrück ist dieses „woher" immer zu erblicken. Die Stadt ist glücklich genug gewesen, aus der Überschüttung mit Ekrasit und Phosphor ein Freilichtmuseum voller Kostbarkeiten zu retten. Es ist vieles vernichtet worden, aber es ist immer noch genügend vorhanden, um nicht irren zu können: Wir sind in Osnabrück!
Wäre die Stadt ein einziger Trümmerhaufen gewesen, hätte sie schwer den Mut gefunden, wieder anzufangen. Es waren Symbole da, Ermutigungen, Hinweise: „Hier stand einst. . Gott sei Dank steht fast alles noch, was würdig war, Besitz zu sein. Der Dom, das Rathaus, die Marienkirche, das Hegertor, der Bucksturm, der Bürgergehorsam, die Vitischanze, ein Dutzend alter Giebel. Nichts ist restlos zerstört. Nichts ist spurlos verschwunden. Von allem ist noch ein Zeichen, der Umriss, die Aufforderung da. Den Heiligen in den Außennischen der Kirchen haben Bombensplitter das Gesicht halbiert, als solle ihnen das Weinen erspart bleiben, aber anderswo lächeln feiste Engel über den Untergang dieser steinernen Welt, Heilige blicken zum Himmel empor, in Kaiserbärten schilpen Spatzen, und Wasserspeier blecken ihre Drachenmäuler. Ja, sogar der Kopf des Löwenpudels, der vor dem Dom sein Denkmal hat, fand sich im Geröll wieder. Wenn die Ratsherren Geld hätten, würden sie bauen. Sie würden eines Tages alles wiederhergestellt haben, wie das Rathaus etwa: blank und neu und über alles Gezänk erhaben. Sie würden eine Stadt errichten, in der alles so altertümlich wäre wie früher, eine Stadt mit lauter kleinen Sprossenfensterchen. Freilich würden sie die Straßen breiter machen wollen und sich auch sonst ein wenig danach umtun, was dem Verkehr dient. Sie hätten dann dieses Osnabrück, das ihnen lieb ist, zurückerobert. Dieses Osnabrück, das sie verehren bis in seinen letzten armseligen Winkel. Es wird lange dauern. Die Kassen sind leer. Der Aufbau geht Stein um Stein, Haus um Haus, nicht Stadtviertel um Stadtviertel, voran. Deswegen aber lieben sie ihre Stadt nicht weniger innig. Das Schönste sind die Wälle.
An der Herzjesukirche beginnt die Lindenpracht des Herrenteichgrabens. Hier hängt das Laub der Trauerweiden am jenseitigen Ufer ins Hasewasser. Die Silhouette der türmereichen Stadt hat hier ihre schadhafteste und schmerzlichste Stelle. Aber dann sind gleich der Pernickelturm, die Vitischanze mit dem Barenturm und der Bürgergehorsam da.
Der Wall ist grün wie eine Wiese, eine Wiese inmitten der Stadt, und alte Bäume bedecken den Asphalt mit Schatten. Am Rißmüllerplatz wird der Wall zum Park. Das Weinlaub färbt die Mauern rötlich, das gelbe Laub der Linden tropft auf die blassgrünen Rasenflächen, und in den Anlagen am Hegertor protzen Astern und Kapuzinerkresse. Hegertor und Schlosswall sind die Fortsetzung dieser Landschaft.
Was die Stadt zu bieten hat, bietet sie hier. Auf den Wällen hält sie, was sie vor den geschnitzten Giebeln der Bürgerhäuser, in den Kirchen, im Museum, unter den Türmen und im Rathaus verspricht: Sie ist ganz Stil, ganz Atmosphäre, ganz Würde und lächelnde Weisheit.
Wer die Stadt liebt, liebt sie hier am innigsten.

B. J. MORSE

 

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