Kleine Bettlektüre für standfeste Osnabrücker

Kleine Bettlektüre für standfeste Osnabrücker 

Auszug

Verlag Scherz Stuttgart

Es ist wahr, daß wir uns in eine Stadt verlieben können wie in eine Melodie oder in ein Buch oder in das Gesicht eines Menschen, mit dem wir zusammenleben. Müssen wir über diese Liebe Rechenschaft ablegen? Müssen wir sagen, warum von dieser Leidenschaft erfaßt sind? Wen kümmert es, daß wir so beharrlich auch das Ungute, das Armselige, sogar das Häßliche verteidigen?

Das Wort Vaterland ist uns zur Enttäuschung geraten, aber das Wort Heimat hat immer noch seinen guten, alten, festen Klang. Meine Eltern waren Bauernkinder aus der Umgebung von Bersenbrück; an ihren Dörfern vorbei floß die Hase. Als ich Kind war und in einer fremden Stadt am Rhein aufwuchs, erzählte mir die Mutter von Kutschwagenfahrten nach Osnabrück. Man ging dort ins Theater, das damals in der Straße Große Gildewart lag, und kaufte Schmuck und Kleider ein. Ich erinnerte mich an ein mit weißer Seide ausgeschlagenes Etui, das den Namen des Osnabrücker Juweliers trug, der auch heute noch Brillantnadeln verkauft. Ich kannte bereits den Dom und das Rathaus und das Agnes-Schoeller-Haus, als ich die Stadt noch nicht betreten hatte.

Osnabrück und das Land ringsum mit seinen Kuhweiden, Äckern, Wäldern, Wasserburgen, Fachwerkhäusern, Kirchen und - seltsamerweise auch den Kaifeewirtschaften, an deren Tischen sich sonntags die jungen Leute kennenlernten - waren tief in meine Kinderwelt eingeschlossen. Als ich getauft wurde, soll ein Onkel aus Ostercappeln mit einem Laib Pumpernickel angetreten sein, und eine Tante aus Flunteburg schenkte geräucherte Aale.

Worauf ich hinauswill, ist dies: Den Verwandten aus Osnabrück lag daran, am Leben zu sein, und sie wollten auch mich leben lassen. Sie brachten mir statt des Gesang- und Gebetbuches, das üblich war, kräftige Nahrung mit. Sie gaben mir das Brot der Bauern und Handwerker, und aus dem Dümmer den Anteil des Fischers. Das Wort Pumpernickel schmeckt mir nach Heu, Pfingstrosen, Schützenfest, Hochzeit, Kindtaufe, und ich weiß nicht wonach noch.

Die Sehnsucht nach dieser Stadt und nach der Landschaft, in die sie eingebettet lag, in eine Mulde zwischen Teutoburger Wald und Wiehengebir- ge, in ein grünes altes geschichtsträchtiges Bauernland, in ein Land der Kirchen, Burgen und Kaffeewirtschaften, dieses Verlangen war so groß, daß ich dort hinzog, als der Krieg vorüber war. Ich suchte die Heimat.

Nun, das Theater meiner Mutter war nichtmehr das Haus in der Große Gildewart, und das vielgerühmte Agnes-Schoeller-Haus stand auch nicht mehr. Aber es gab noch den Willmannschen Giebel und den Gasthof Walhalla, in dem Lort- zing gebechert hat, und es standen noch die Stadtwaage und das Rathaus und auch die schönen alten Kirchen, in deren Stille die Erschöpften Trost fanden.

Osnabrück ist nicht allein die Stadt der Bürger, die dort geboren sind und seit Generationen ihre Wurzeln haben. Jahr um Jahr ziehen junge Leute in neuerbaute Häuser ein, tolopen Volk, wie man hier sagt, das aus Tecklenburg, Schledehausen, Bramsche, Recke, Iburg, Melle, Wittlage, Rothenfelde, Oesede, Wallenhorst, Ankum, aus Hunderten von Bauernschaften, Kirchdörfern und Kleinstädten stammt.

Sie alle bringen den Reichtum ihrer Gesundheit mit, den Geruch der Eichenwälder von daheim, den Duft der Heuwiesen, die Würze der Bauerngärten, den Anhauch der Ställe, die Erfahrung derber und unverzagter Lebenshaltung, den Mut zum Durchhalten, die Tapferkeit zum Weiterkommen, den Sinn für Essen und Trinken, den Glauben an Erfolg, die Hoffnung auf Frieden, die Liebe zur Familie und zur Nachbarschaft.

Spötter bezeichnen Osnabrück als Stadt der groben Mittelmäßigkeit. Ich habe dieses Wort stets als Lob gewertet, und es ist auch ein Lob. Ich will gerne mittelmäßig sein, wenn ich nur hier leben darf - und was heißt grob? Grob gesagt ist ehrlich gesagt.

Osnabrück ist eine ehrliche Stadt. Osnabrück hat kein Pflaster für Snobs und Leisetreter, keinen Raum für Avantgardisten und Experimentierer, keine Antenne für Witzeleien und Korrekturen durch Gespött. Bewundert wird der Mann, der Acht ums Vordereck wirft. Beneidet wird, wer im Schützenzug die Fahne trägt. Anerkannt wird, wer im Vereinsleben die Rede hält.

Gesungen wird an Sommerabenden bei offenem Fenster, der Kunst und des Durstes wegen, und im Winter knöchelt man den Skat auf den Küchentisch. Die Arbeit im Kleingarten ist die wahre Lust, und Glück genießt man erst, wenn die Börde im Keller gefüllt sind mit Gläsern voller Brechbohnen, Stachelbeeren, Apfelmus, Sauerkirschen, Birnen, Pfirsiche und Perlzwiebeln.

Am liebsten würde man hinter dem Hause Hühner halten und auf dem Balkon Kaninchen. Aber damit ist es vorbei. Langsam vergeht der jahrtausendealte Drang zur Selbstversorgung und zum Alles-alleine-machen, für den die alten Häuser mit Kuhställen und Schweinekoben und den Einfahrten für Pferdewagen noch Zeugnis ablegen. Vergangen sind die Tage der Steinwerke, in die sich Frauen und Kinder verkrochen, wenn der Feind nahte und die Männer auf den Wällen standen. Heute sind die Wälle grün und mit Linden bestanden. Hier gehen wir spazieren.

Osnabrück ist Großstadt. Diesen Umstand verdankt die Stadt der wachsenden Zahl seiner Einwohner. Aber in Wirklichkeit haftet ihr immer noch etwas Kleinstädtisches, Ländliches, ja geradezu Bescheidenes an. Vielleicht rührt es daher, daß man überall an das Vergangene erinnert wird. Karl der Große und Herzog Wittekind und die erlauchte Schar der Bischöfe, Superintendenten und Bürgermeister raunen und wispern mit, von Justus Moser nicht zu reden, dessen Geburtshaus bei Stadtbesichtigungen gezeigt wird.

Neben hochgeschossigen modernen Bauten, in denen Behörden und Schulen untergebracht sind, neben Geschäftshäusern und Banken, in den Hinterhöfen von Hotels und Lichtspieltheatern, überall behauptet sich Gemäuer, das schon vor dem Dreißigjährigen Krieg morsch war. Und auf diesem morschen Stein wuchern Zwergbirke, Minze und Löwenzahn. Nachtigallen nisten im Holunderstrauch, mitten in der Stadt, mitten in der Großstadt, und auf den Fenstersimsen gurren Tauben.

Es kann vorkommen, daß aus Küchenfenstern Dienstmädchenlieder tönen, und im Keller übt ein Gymnasiast Trompete. Ein Hahn in der Frühe ist nichts Ungewöhnliches, sein Ruf mischt sich in das erzene Gedröhn der Glocke, die zum Gottesdienst einlädt, Frömmigkeit ist immer mit im Spiel der tickenden Uhren und knarrenden Windfahnen.

Und viel Grün ist da. Alte Bäume schmeicheln ihren Schatten in Rasenteppiche und Blumenrondelle. Wasserspiele plätschern zum Geknarr der Kinderwagen auf den gekiesten Wegen im Schloßgarten. Ein steinerner Herkules stützt sich auf seine Keule. Elektrisches Geklingel kündet den Beginn einer Unterrichtsstunde im Gymnasium an. Lateinisches weht dahin. Die Strophe eines Gedichtes. Eine Formel aus dem Algebrabuch.

Ich frage mich, ob dies Bilder sind aus jeder Stadt, die an irgendeinem Fluß und zwischen irgendwelchen Bergen liegt. Geht es überall so poetisch, so versponnen, so rasengrün und nachtigallenlustig zu? Und mischt sich überall die Vergangenheit so liebenswürdig mit der Gegenwart? Mit dieser Gegenwart der Rechenmaschinen, Autos und Bildschirme?

Bernhard Schulz