Das Ding, dass wir Zwiebeln nannten
17.05.1974
In Sommer fuhr ich mit dem Rad zur Schule. Ich mußte sechs Kilometer über eine staubige
Landstraße radeln, die mit Ebereschenbäumen gesäumt war. Zu beiden Seiten der Straße buckelten sich Wiesen und
Kartoffeläcker, und das Dorf mit Kirche, Schule und einem guten Dutzend Häusern, von denen jedes zweite ein
Wirtshaus war, lag auf einem Berg, und es lag da wie gemalt. Im Sommer mit dem Fahrrad. Aber im Winter, wenn Regen
fiel und Schnee kam unr! Sturm über die iicker blies, dann durfte ich mit der Kleinbahn fahren. Ich erhielt eine
Monatskarte, auf der meine Fotografie, ein schafsnasiges Gesicht mit Fransenhaar über den Augen, mich als Schüler
auswies. Die Monatskarte brauchte ich niemals vorzuzeigen; denn der Zugschaffner kannte jeden, der mitfuhr, und er
wußte sogar, ob er Butter oder Margarine auf dem Brot hatte.
Wenn ich gegen Abend zurückfuhr, mußte ich mich im Warteraum der Station aufhalten. Der Zug war niemals pünktlich.
Es machte den Leuten nichts aus, eine oder anderthalb Stunden zu warten. Sie saßen da und erzählten einander was.
Am liebsten sprachen sie über Krankheiten, von denen sie ja am meisten geplagt wurden.
Der Warteraum wurde, sobald die Dämmerung anbrach, von einer Petroleumlampe erhellt, die der Stationsvorsteher
anzündete.
Der Stationsvorsteher, ein kränkelnder Mann mit einer Beinprothese, der in Mußestunden Münzen und Briefmarken
sammelte, hielt auch den Kanonenofen in Gang und, was am wichtigsten war, die Standuhr; denn diese Standuhr im
Warteraum der Kleinbahnstation war in der Gemeinde die einzige Gelegenheit zu erfahren, was die Zeit geschlagen
hatte.
Diese Uhr mit ihren kupfernen Gewichten, im Inventar der Kleinbahngesellschaft als Wertobjekte verzeichnet, war in
einem eichenen Gehäuse tätig, das in die Wand eingelassen war, um einem Diebstahl vorzubeugen. Die Uhr strengte
sich sehr dabei an, die Sekunden loszuwerden, die der Stationsvorsteher beim Aufziehen in ihrem Werk jeweils für
vierunzwanzig Stunden gespeichert hatte.
Rasselnd und sehnurpsend und verärgert losschlagend, sobald die Stunde voll war, erfüllte sie ihre Aufgabe, die
Zeit anzusagen, obwohl es für den Fahrplan bedeutungslos war. Es war sozusagen eine Webenfunktion, eine Zugabe, ein
Kundendienst der Kleinbahngesellschaft, den Leuten klarzumachen, daß es soeben fünf Uhr geworden sei, und nun seht
zu, wie ihr damit fertig werdet.
Ich habe das Rasseln und Schnurpsen dieser für die Ewigkeit geschaffenen Uhr heute noch im Ohr. Es hat mich, vor
allem wenn ich allein in dem dämmernden Raum saß, mit Furcht erfüllt vor diesem Gegenstand, der ja auch mein Leben
miteinbezog in den Sturz der Sekunden. Ahnte ich bereits, daß es darauf ankam, die Zeit zu nutzen, die Stunden
festzuhalten, stets das Richtige zu tun und nie das Falsche, aber wie unterschied sich das? Ich atmete auf, wenn
jemand, ein alter Mann vielleicht, eintrat und grüßte und auf
das emaillierte Zifferblatt wies: "Junge, schau doch mal, wie spät ist es denn?"
Ich las die Zeit ab. Ich spuckte die Zeit aus wie etwas, das nicht wie Honig schmeckte, und ich konnte mich darauf
verlassen, daß der alte Mann sagen würde: "Mein Gott, wie doch die Zeit vergeht!" Der alte Mann wußte nicht daß es
nicht die Zeit war, die verging, sondern er selbst, der Mensch, der heute entweder das Richtige oder das Falsche
getan hatte. Später, als ich um ein Jahr älter geworden war in der Schule, schickte mich der Lehrer einmal in der
Woche zur Station, um, wie er sagte, "die Zeit zu holen". Er gab mir seine Taschenuhr mit. Es war eine goldene
Sprungdeckel uhr, die mit einem Schlüsselchen aufgezogen werden mußte und die, weil sie ihr Besitzer für kostbar
erachtete, in einer mit rotem Samt gefütterten Schutzhülle aus Nickelblech steckte.
Umständlich mußte der Lehrer jedesmal, wenn er zu Beginn des Unterrichts die Glocke läuten ließ, die Schutzhülle
und dann die beiden Sprungdeckel mit dem Daumennagel aufknipsen, um herauszukriegen, woran er war mit seiner Zeit
Diese Uhr, die wir Schüler "die Zwiebel" nannten, weil aus ihr die Zeit regelrecht herausgeschält werden mußte,
nahm unter allen Taschenuhren, die ich kannte, eine besondere Stellung ein. Der Lehrer hatte sie mit im Krieg
gehabt, er war Offizier gewesen, und wenn ein Angriff befohlen war, hatte er die Uhr in der Hand gehabt und ihre
Deckel so frühzeitig geschlossen, daß nicht eine Sekunde verlorengegangen war.
Der Lehrer war aus dem Krieg heimgekehrt, und die Uhr, diese metallene Zwiebel in der Westentasche des Mannes, der
mich Lesen und Schreiben lehrte, war ein Ding, das Ehrfurcht und gleichzeitig auch Grauen in mir hervorrief. Ich
hörte, während ich auf dem Weg war zur Standuhr, Geschütze donnern und Geschoßgarben peitschen, und das, nicht
wahr, geschieht doch auch heute noch.
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