Die Finken des Karl Wagenführ (1950)
Des Menschen Herz will an irgendetwas hängen. Ich kenne Herzen, die an Briefmarken hängen, an
Schallplatten, Münzen, Schmetterlingen, Zierkürbissen, Knöpfen, Streichholzschachteln und Bierdeckeln. Der
Gegenstand ihres Eifers ist je nach Bildung und Vermögenslage verschieden. Aber sie alle, die da sammeln und
tauschen und ihr Hobby verherrlichen, sind verbunden durch die Liebe zu dem kleinen Ding. Jeder neue Bierdeckel ist
ein Sieg, den sie über den Alltag errungen haben. Jeder neue Knopf ist ein Triumph der Lust zu leben.
Wagenführs Leben war den Finken gewidmet. Finken sind Singvögel und heißen lateinisch Fringilidae. Aber das wusste
Wagenführ nicht. Es genügte ihm, dass sie singen konnten. Um genau zu sein: Finken singen nicht, Finken schlagen.
Es gibt unter ihnen gute und schlechte Künstler, ja sogar Stars, mit denen die Finkenfreunde einmal im Jahr zu
einem Wettstreit antreten. In Wagenführs Wohnküche – er lebte mit seiner Frau und zwei Kindern in drei Zimmern –
war eine Wand ganz mit Käfigen bedeckt. Es waren Kästchen, die er selbst aus weißen Holzstäbchen zusammengeleimt
hatte und deren jedes einen Futternapf, einen Badetrog, ein Glöckchen und einen Überzug aus weißem Leinen
besaß.
Zu der Zeit, als ich Wagenführs kannte, schlugen siebenunddreißig Finken in ihrer Küche. Der Schlag eines einzigen
Vogels genügte, um unter den gefiederten Sängern lauten Jubel zu erwecken. In Mutter Wagenführs Wohnung herrschte
tagsüber ewiger Frühling. Wenn draußen der Regen an die Fenster klatschte und der Sturm heulte, umgaben ihren Herd
süße und melodische Vogelstimmen. Mutter Wagenführ kannte den Vorsänger in der Schar der Finken und verstand es,
ihn durch den eigenen Zungenschlag zu locken.
Eine Anzahl streng gehüteter Geheimnisse umgab diese Finken. Ihr Herr führte eine regelrechte Statistik über die
Summe ihrer Schläge, nach denen Nahrung und Unterricht bemessen wurden. Jener Fink, der es auf die höchste Zahl von
Schlägen brachte, wurde für den Wettstreit erkoren und auf besondere Weise ausgebildet. Er durfte auf Wagenführs
Zeigefinger sitzen und der Zunge des Meisters lauschen, die den Fink täuschend nachzuahmen verstand.
Nun muss man wissen, dass Wagenführ Grobschmied war und Kanonenrohre gießen musste. Er stand jeden Morgen um drei
Uhr auf. Bevor er aus dem Haus ging, hatte er alle siebenunddreißig Käfige gereinigt, mit Körnerfutter uns Wasser
versorgt und die Überzüge sorgfältig geschichtet. Dazu veranstalteten die Finken ein Ständchen, um das ihn jeder
Generaldirektor beneidet hätte; denn die Finken schlagen nur für den, der sie liebt.
Wenn er mittags von der Schicht kam, versorgte er die Vögel, bevor er selbst ans Essen dachte. Er fuhr nie in
Urlaub, weil er niemanden kannte, dem er seine Lieblinge anvertrauen wollte und weil es überhaupt auf der Welt
nichts Edleres und Lohnenderes gab als Finken. Er war ein liebenswerter Narr.
Er war ein Grobschmied, dem man beigebracht hatte, Kanonenrohre zu gießen. Ich weiß nicht, ob er aus diesem Grunde
auf die Finkenzucht verfallen war; denn einen größeren Gegensatz gibt es nicht als den, der zwischen Singvogel und
Geschützrohr besteht, zwischen Finkenschlag und Abschussdonner, zwischen Vogelkonzert und Schlachtenlärm.
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