Aus: Heimweh
„Am Tage nach meiner Pensionierung verlasse ich diesen verdammten, verregneten, miesen Ort, so
wahr ich Finsterling heiße." „Sagten Sie , verdammt'?" fragte Apotheker Burger. „Ich sagte, daß dies ein
verdammtes, verregnetes, mieses Nest ist." „Und wo ist es nicht mies? Wo regnet es nicht? Was meinen Sie?" „Am
Bodensee zum Beispiel."
„Bodensee? Hören Sie auf damit. Wir können doch nicht alle miteinander am Bodensee leben. Wie stellen Sie sich das
vor?" „Ich kann meine Würstchen essen, wo ich will." „Sicher können Sie das. Aber Sie werden Heimweh bekommen.
Vergessen Sie nicht, dass Sie den größten Teil Ihres Lebens hier in diesem - wie sagten Sie doch? - verdammten,
verregneten, miesen Nest verbracht haben. Sie haben Wurzeln wie ein Baum, den man im Alter ja auch nicht versetzen
kann."
Lehrer Finsterling brütete vor sich hin. Er hatte nun einmal diesen Tick. Jeder im Dorf wusste, dass er den
Bodensee-Tick hatte. Er wollte weg. Er wollte heraus. Er wollte im Süden leben, wo es sonnig war und wo nur
gelegentlich ein bisschen Regen fiel, nicht mehr, als notwendig war, um das Blühen und Gedeihen in Gang zu halten.
Er sagte tatsächlich, Blühen und Gedeihen, und er sagte es so, als hätte er in seinem ganzen bisherigen Leben
nichts Blühendes gesehen.
„Sie sind ein Mensch", sagte der Apotheker, „der überhaupt nicht an den Bodensee passt. Übersehen Sie nicht, dass
Sie fünfundsechzig sind, wenn Sie auswandern. Ihre Freunde und Ihre Kinder werden Ihnen fehlen. Das verdammte Dorf
wird Ihnen fehlen und die ganze verregnete Landschaft. Sie werden diesen Entschluss bald bereuen und
zurückkehren."
„Ich werde nicht zurückkehren, das schwöre ich Ihnen." „Wetten, dass Sie's tun?"
„In Ordnung. Um eine Kiste Wein. Sie kennen meine Marke." Die beiden Herren, Stammtischzecher, Sangesbrüder und
Dorfpolitiker seit jeher, legten die Regeln der Wette fest, und drei Jahre später, es war wenige Tage nach der
Verabschiedung des verdienstvollen Lehrers, an der sich das Dorf mit einem Fackelzug und die Regierung mit einem
Verdienstkreuz beteiligt hatten, gab Herr Finsterling seine Wohnung und den Garten auf und zog mit seiner Frau an
den Bodensee.
Er hatte den Plan jahrelang vorbereitet. Niemals wieder war zwischen dem Apotheker und ihm ein Wort darüber
geäußert worden. In der Heimat ließ er drei Kinder zurück, die verheiratet waren und sich in das stille Leben des
Dorfes wohlig eingebettet hatten. „Machs gut, Vater", sagten sie.
Der Lehrer a. D. Wilhelm Finsterling schrieb Ansichtskarten an seine Freunde, die von Meeresbläue und
sonnentrunkenem Himmel nur so leuchteten, und am Horizont sah man die Kette der schneebedeckten
Alpen.
„Na ja", sagte der Apotheker. Er hatte vor vierzig Jahren seine Hochzeitsreise an den Bodensee gemacht, und er
erinnerte sich, dass es damals kalt gewesen war und geregnet hatte. Nichts ist besser geeignet, Freundschaften zu
zerstören, als Entfernung. Apotheker Burger hatte den Bodensee, den Lehrer und die Wette schon vergessen, als ihm
das ortsansässige Rollfuhrunternehmen eine Kiste vor den Kellereingang wuchtete. „Wein'', sagte der Mann, „bitte
quittieren."
Der Apotheker quittierte. Ihm schwante Gutes; denn es war seine Weinmarke, die da angekommen war. Als er den Deckel
der Kiste abgehoben hatte, stand da in riesigen Buchstaben auf Pappe gemalt: „Darf ich zurückkehren? Finsterling."
„Aber ja doch", schmunzelte der Apotheker.
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