Sanft ruhen die Barone   1969

Aus einem Roman, der um die Jahrhundertwende spielt, ist mir eine Szene im Gedächtnis haften geblieben. Ein Mann ist aus dem Moor zurückgekehrt, wo er auf Enten angesessen hat. Der Tag war nass und kalt, und es ist spät geworden. Vor dem Kamin setzt der Jäger seiner Magd den Fuß ins Kreuz und lässt sich die Schaftstiefel ausziehen, und dann befiehlt er: „Betty, steck die Kerzen an!“ Die Magd sagt: “Jawohl Herr Baron“, und tut, was er befohlen hat. Sie steckt die Kerzen an. Jawohl, Herr Baron. Unter Wilhelm zwo hatten die Barone das Sagen.
Ich bin achtzig Jahre alt, und in diesen achtzig Jahren ist mir nie jemand begegnet, der von der Jagd auf Enten zurückkahm. Fünfzig Gramm Entenbrust als Beute, das lohnt nicht. Alle meine Nachbarn haben mit der Jagd auf Tantiemen, Provisionen und Honorare zu Tun. Ihr Horrido erschallt dem Zugewinn, und Schaftstiefel tragen sie auch nicht mehr.
Ich bin Zeuge zweier Welten, der Welt der Postkutsche und der Welt der Raumkapsel. Als ich geboren wurde, lief in Lindlar die Postkutsche noch. Es war ein mit dem Posthorn verziertes Fahrzeug, in dem sechs Personen unbequem befördert werden konnten. Hinten an der Kutsche wippte ein hölzerner Koffer, in dem unterwegs Briefe und Pakete gesammelt wurden.
Wer mit der Postkutsche in die Kreisstadt Wipperfürth reisen musste, zum Notar, zum Zahnarzt oder zum Finanzamt, der musste sich beim Postamt in eine Warteliste eintragen. Irgendwann kam dann die Frau des Postmeisters und brachte den Bescheid, an welchem Tag Frau Müller oder Herr Schmitz an der Fahrt teilnehmen durften.
Ich erinnere mich, dass unterwegs gesungen wurde, „Gold’ne Abendsonne, wie bist Du so schön“, beseelt und vierstimmig, und wahr ist, dass die Pferde vor jeder Gastwirtschaft am Wege unaufgefordert stehen blieben.
Damals zogen Kesselflicker, Korbflechter und Scherenschleifer über die Dörfer. Straßenmusikanten sammelten Pfennige in ihre Mützen. Degenschlucker, Entfesselungskünstler und Feuerspucker hatten ihre große Zeit. Zigeuner traten mit dressierten Affen und Bären auf. Im Wanderzirkus bemühte sich der dumme August um Lacherfolge. Schützenverein, Kinderchor und Feuerwehr veranstalteten Theateraufführungen, Kostümbälle und Weihnachtsfeiern mit Tombola.
Ich erinnere mich an Nächte, in denen die Männer, der Bürgermeister voran, aus den Betten geholt wurden, um Wildschweine zu scheuchen, die in die Kartoffeläcker der Bauern eingefallen waren. Nächte, in denen Höfe niederbrannten und Rache geübt wurde. Nächte, in denen Gendarmen Kleiderschränke aufbrachen, und Deserteure verhafteten.
Wir lernten das Automobil kennen, das Kino, das Grammophon, die Schreibmaschine, das Telefon, den Rundfunk, das Weißbrot und das Ratenzahlungssystem. Von Bettys Kerze zu Vaters Glühbirne – welch ein Sprung! Die Enkelkinder jener Knaben, die sich vor den Schrecken des Krieges im Kleiderschrank versteckten, erleben heute auf dem Fernsehschirm die Gemetzel in Russland, in Afrika, auf dem Balkan und wo noch?
Bettys Kerze leuchtet niemandem mehr. Sanft ruhen die Barone, trockengelegt wurde das Moor, und die wilden schönen kecken Erpel haben sich mit ihren grauen Weibchen davon gemacht. Wohin? Ich weiß es nicht.