Ach ja, damals …
Damals lebte Therese noch. Sie war eine Verwandte meiner Mutter und wurde von uns allen, sogar
von ihren Geschwistern, Tante Thesi genannt. Es lag vielleicht daran, daß sie die älteste in der Familie war und
immer nur graue Kleider mit Stehbördchen trug. Diese grauen langen Kleider machten sie in gewisser Weise tantig und
zeigten vor allem an, daß sie streng sein konnte.
Tante Thesi war Lehrerin in einer Gegend, die ziemlich abseits lag und die mein Vater als
„unmöglich" bezeichnete, weil die Menschen dort in Holzschuhen umherliefen und von der Schafzucht lebten.
Für Vater, der einmal dort Besuch gemacht hatte, war es ein nachhaltiger Eindruck gewesen, zu
erleben, wie die Dorfbewohner am Sonntag in Holzschuhen über den eichenen Fußboden in der Kirche trappelten und
jedesmal gewaltigen Lärm verursachten, wenn sie zum Singen aufstanden, und er hatte sich gewundert, daß sogar der
Pfarrer Holzschuhe trug.
Aber das Entscheidende für seine Ansicht, daß es dort „unmöglich" zuging, war die Tatsache, daß
die Männer, während sie auf ihre Schafe aufpaßten, Strümpfe strickten. Diese Strümpfe waren allerdings
Qualitätsware, erstklassige Arbeit, die sich sehen lassen konnte.
„Aber ich frage mich", sagte Vater, „wieso jeder dieser Hirten mehr als zehntausend Paar
Strümpfe haben will."
Die Tante, die diesen strickenden und hinter ihren blökenden Schafherden herziehenden Männern
das Alphabet und das Einmaleins beigebracht hatte, muß überzeugt gewesen sein, daß sie es hier mit tüchtigen
Burschen zu tun hatte.
„Ein Mann, gleichgültig welchen Beruf er erlernt hat", sagte sie, „sollte jede Minute
Freizeit nützen, indem er Socken strickt".
Das war, ehrlich gesagt, eine sehr anfechtbare Auffassung von der Tüchtigkeit und der
Lebensaufgabe eines erwachsenen Mannes. Man mußte der Tante zugute halten, daß sie es nicht besser wissen konnte,
da sie ja in dieser „unmöglichen" Gegend lebte.
Einmal im Jahr, es geschah gewöhnlich im Sommer, packte Tante Thesi den Koffer und verließ ihre
strickenden Supermänner für einige Wochen. Wir holten sie am Bahnhof ab, und meine Mutter sagte: „Schön, daß du
gekommen bist."
Die Anwesenheit der Tante hatte zur Folge, daß ich ebenfalls ein strümpfestrickender und
tüchtiger Mensch werden sollte. Ich sollte später fähig sein, das sagte sie jedenfalls, mich im Leben
durchzusetzen, und das gelang mir nur, indem ich Socken anfertigte.
Ich muß ein artiges Kind gewesen sein. Ich rebellierte überhaupt nicht, von Widerstand und
Aufruhr war keine Rede, jedenfalls ist nichts dergleichen überliefert worden: Ich zückte weder ein Messer noch warf
ich Stühle umher oder zerknickte gar diese metallenen langen Nadeln, die in dem Wollknäuel steckten.
Ich bin sicher, daß ein Paar jener Socken, die ich damals gestrickt habe, im Museum aufbewahrt
werden sollten, oder besser noch in einer kugelsicheren Vitrine vor dem Eingang zum städtischen Gymnasium.
Aufbewahrt werden sollten als hehres Beispiel für den Fleiß eines deutschen Schülers etwa um das Jahr 1925 und
gleichzeitig auch für seinen treuherzigen Glauben an diese Tante aus einer „unmöglichen" Gegend.
Aus: Kirchenbote Osnabrück 22.08.1976
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