Wenn Kühe Eier legen (1963)
Meine Tochter weiß nicht, wie eine Kuh aussieht und was der Haushalt dem Rindvieh zu verdanken
hat. Ich werde entweder einen Haufen Bilderbücher, in denen Kühe abgebildet sind, anschaffen müssen oder einen
Kraftwagen, um ins Grüne hinauszufahren und dem Kind eine Kuh zu zeigen. Wobei ich natürlich nicht weiß, wie weit
man heutzutage fahren muß, um eine Kuh anzutreffen. Es gibt doch hoffentlich noch welche?
Amaryllis, von uns allen schlicht Rille genannt, ist sieben Jahre alt und geht ins zweite Schuljahr. Sie ist weder
die Klügste noch die Dümmste in der Klasse. Aber sie kennt keine Kuh. Elefanten, Löwen, Tiger und alle Zootiere
sind ihr geläufig.
„Rille“, sage ich, "was erhalten wir von der Kuh“. Ich mache einen ganz spitzen Mund, als wollte ich "Butter"
sagen.
„Eier“, antwortet Rille.
"Und was schenken uns die Hühner?"
"Schnittlauch...“
"Und wer liefert die Milch?"
"Weiß ich nicht."
"Aber wo das Brot wächst, das weißt du?"
„Im Auto"
Rille ist ein typisches Großstadtkind. Vor Wochen, als die Klasse die Ereignisse an Berge Sinai bildlich darstellen
sollte, rüstete sie den Berg Sinai mit lauter abgerundeten Rechtecken aus.
"Rille", fragte ich, "was ist das?"
"Dreimal darfst du raten, Papi."
"Fenster?"
"Nee.“
"Balkone"
"Nee.“
"Heißwasserboiler?"
"Nee.“
"Was denn?"
"Fernsehen."
Da haben wir also das Kind unserer Zeit. Jehova erschien den Juden am Berge Sinai auf dem Fernsehschirm, und das
vor dreitausend Jahren. Die Kühe legen Eier, die Hühner machen Schnittlauch und das Korn wächst im Kofferraum. Dann
ist je wohl alles in bester Ordnung.
Ich muß etwas unternehmen. Ich bin der Vater. Ich habe zu meiner Frau gesagt, daß ich jetzt losgehe, um
Bilderbücher zu kaufen mit Kühen, Hühnern und Bäckermeistern drin, und die Sache mit dem Schnittlauch muß auch
geklärt werden. Das Kind braucht Nachhilfestunden in Naturkunde. Mit Fernsehen und Tigern und Autos weiß es
Bescheid.
Unterwegs begegnet mir Rilles Lehrerin. Eine reisende junge Dame, frisch aus dem Hörsaal, durch und durch
Ganzwortmethode.
"Nett, daß ich Sie treffe., sage ich, "ich muß mit Ihnen über Rille sprechen."
„Was für ´ne Rille?" "Amaryllis. Meine Tochter. Sie weiß nicht, wie eine Kuh aussieht“.
Das reizende Fräulein ist fassungslos: "Dabei habe ich gestern Preise ausgesetzt für die beste Antwort auf die
Frage: 'Wieviele Beine hat eine Kuh?' Amaryllis hat für ihre Antwort den ersten Preis bekommen. Das ist doch ein
schöner Erfolg. Darauf sollten Sie stolz sein. Ihre Tochter ist ein begabtes Kind“.
"Was hat sie denn geantwortet?“
„Drei.“
"Aber um des Himmels Willen, das ist falsch. Dafür hatte sie doch nicht den ersten Preis verdient. War denn niemand
da mit vier Beinen?"
"Nein. Amaryllis war am nächsten dran."
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