Osnabrück ist eine Großstadt, was die Zahl seiner Einwohner betrifft. Es wohnen über
einhunderttausend Menschen in den Häusern dieser Stadt. Die Statistik allein macht jedoch keine Großstadt, das ist
sicher. Die Statistik registriert die „Eingänge" und zieht das Resultat aus ihren Summierungen. So sagt sie eines
Tages, wenn der einhunderttausendste Einwohner eingetroffen ist: „Gratuliere, Sie sind soeben Großstadt
geworden." Das braudien wir nicht ernst zu nehmen. Osnabrück ist keine Großstadt, wie Hamburg oder
Düsseldorf Großstädte sind. Das ist ein Vorteil, den die Osnabrücker sich zu wahren verstanden haben. Die
Osnabrücker wehren sich mit aller Macht gegen schnellfahrende Straßenbahnen und himmelanstürmende Gebirge von
Wohnkasernen. Sie benehmen sich reserviert gegen Nachtklubs und gegen Lokale, in denen Opium geraucht wird. Sie
sperren sich gegen singende Bettler auf den Straßen und gegen Schnellimbiß-Stuben. Sie hassen Tamtam und Geschrei.
Sie bevorzugen weder moderne Theaterstücke, noch hängen sie allzu sehr an süßlichen Operetten. Sie machen sich
nichts aus Pampelmusensaft und ebensowenig aus einer Jazzband. Sie krönen nicht den bestangezogenen Mann und
beteiligen sich nicht ernsthaft an Schönheitswettbewerben der Damenwelt. Osnabrück ist eine Großstadt mit
ländlichem Akzent. Die Lebenssehnsucht ihrer Einwohner gipfelt in dem Wunsch, ein Stück Gartenland zu besitzen. Sie
alle, die hier wohnen, stammen in der ersten, zweiten oder dritten Generation aus Bramsche, Lüstringen, Bohmte und
Tecklenburg. Sie kamen aus Bauernhäusern im Emsland und im Teutoburger Wald. Sie verließen ein Heuerlingshaus
am Hunteburger Moor und eine Tischlerwerkstatt in Ankum. Von daheim brachten sie die Liebe zur Erde mit, die
Fähigkeit zum Gartenbau, den Verstand zum Kaninchenzüchten. Und es gibt kaum eine zweite Stadt, in der die
Kleingärtner so zahlreich vertreten sind wie in Osnabrück. Der Lebenrhythmus dieser Stadt ist zu keiner anderen
Jahreszeit so spürbar wie im Frühjahr. Dann erwacht die Stadt zu einer Seligkeit, die in wirklichen
Großstädten in Müdigkeit zergeht, aber hier blitzen jetzt die Spaten, Erde wird um und um gewühlt, der braune fette
Boden glänzt in der Märzensonne, die Hühner gackern, die Gärtner bündeln die Sellerie- und Kohlpflanzen gleich
hundertweis, ein Handeln und Tauschen mit Kali, Kalk, Leimringen, Hühnermist, Pferdeäpfeln und Saatgut hebt
an ... Die Großstadt ist ein ins Häusermeer vorgedrungenes Dorf geworden. Aus dieser Lust zu arbeiten
gewinnen die Menschen dieser Stadt die Lust zu leben. Sie sind unvergleichlich gesund. Und so geht es den
Sommer über bis zum Herbst. Das Einkochen nimmt alle Zeit in Anspruch, es wird geschält, entsteint, geschabt,
geschnitzelt und gepreßt. Kein Haus in dieser Stadt, das nicht nach Äpfeln duftet und nach
eingestampftem Kohl riecht. In diesen ländlichen Düften fühlt sie sich mit Gier wohl, die Stadt; denn sie besitzt
die gesunde Freude am Natürlichen, den Sinn für Althergebrachtes und aus Jahrhunderten Bewährtes. Sie geizt
ein bißchen. Sie verschwendet nichts. Sie möchte weiterkommen. Sie wird nicht von
Geldaristokraten beherrscht, sondern von Kleinbürgern, die aus Fürstenau und Schledehausen zugezogen sind, aus
jahrhundertealten Siedlungen mit Wasserburgen und mit Kirchen, die wie Festungen gefügt sind. Höfe im Artland,
Kaufmannshäuser in Quakenbrück und Handwerkerwohnungen in Bentheim haben die Adern dieser Stadt geschwellt und ihr
Blut gespeist. Es wird nirgends eine Großstadt zu finden sein, in die so wenig fremdes Blut
eingeflossen ist wie nach Osnabrück. Einflüsse von außen haben die Stadt nicht
verwandelt, es sei denn, daß man die Bomben rechnet, die
das Bild der Stadt gewaltsam zerbrachen. Am liebsten nämlich würden die Osnabrücker heute noch „Ossen-
brügge" sagen, wie in alten Tagen. Das Schnatgangsfest beweist, wie sehr die Einwohner am Alten hängen, wie
sehr sie alle miteinander zusammengehören und sich „olle use" fühlen. Das ist keineswegs rückständig. Das
ist, wenn man den Lauf dieser Welt kennt, der Weisheit letzter Schluss: Nicht zu vergessen nämlich, woher an
gekommen ist. . . In Osnabrück ist dieses „woher" immer zu erblicken. Die Stadt st glücklich genug gewesen,
aus der Überschüttung mit Ekrasit und Phosphor ein reilichtmuseum voller Kostbarkeiten zu retten. Es ist
vieles vernichtet worden, ber es ist immer noch genügend vorhanden, um nicht irren zu können: Wir sind in
Onabrück! Wäre die Stadt ein einziger
Trümmerhaufen gewesen, hätte sie schwer den Mut erunden, wieder anzufangen. Es waren Symbole da,
Ermutigungen, Hinweise: "Hier stand inst. . ." Gott sei Dank steht fast alles noch, was würdig war, esitz zu
sein. Der Dom, das Rathaus, die Marienkirche, das Hegertor, der
Bucksturm, der Bürgergehorsam, die Viti schanze, ein Dutzend alter Giebel. Nchts ist restlos zerstört. Nichts ist
spurlos verschwunden. Von allem ist noch ein Zeichen, der Umriß, die Aufforderung da. Den Heiligen in den
Außennischen der Kirchen haben Bombensplitter das Gesicht halbiert, als solle ihnen das Weinen erspart bleiben,
aber anderswo lächeln feiste Engel über den Untergang dieser steinernen Welt, Heilige blicken zum Himmel empor, in
Kaiserbärten schilpen Spatzen, und Wasserspeier blecken ihre Drachenmäuler. Ja, sogar der Kopf des Löwenpudels,
der vor dem Dom sein Denkmal hat, fand sich im Geröll wieder. Wenn die Ratsherren Geld hätten, würden sie bauen.
Sie würden eines Tages alles wiederhergestellt haben, wie das Rathaus etwa: blank und neu und über alles Gezänk
erhaben. Sie würden eine Stadt errichten, in der alles so altertümlich wäre wie früher, eine Stadt mit lauter
kleinen Sprossenfensterchen. Freilich würden sie die Straßen breiter machen wollen und sich auch sonst ein wenig
danach umtun, was dem Verkehr dient. Sie hätten dann dieses Osnabrück, das ihnen lieb ist, zurückerobert. Dieses
Osnabrück, das sie verehren bis in seinen letzten armseligen Winkel. Es wird lange dauern. Die Kassen sind leer.
Der Aufbau geht Stein um Stein, Haus um Haus, nicht Stadtviertel um Stadtviertel, voran. Deswegen aber lieben sie
ihre Stadt nicht weniger innig. Das Schönste sind die Wälle.
An der Herzjesuskirche
beginnt die Lindenpracht des Herrenteichgrabens. Hier hängt das Laub der Trauerweiden am jenseitigen Ufer
ins Hasewasser. Die Silhouette der türmereichen Stadt hat hier ihre schadhafteste und schmerzlichste Stelle.
Aber dann sind gleich der Pernickelturm, die Viti schanze mit dem Barenturm und der Bürgergehorsam
da.
Der Wall ist grün wie eine
Wiese, eine Wiese inmitten der Stadt, und alte Bäume bedecken den Asphalt mit Schatten. Am Rissmüllerplatz
wird der Wall zum Park. Das Weinlaub färbt die Mauern rötlich, das gelbe Laub der Linden tropft auf die
blassgrünen Rasenflächen, und in den Anlagen am Hegertor protzen Astern und Kapuzinerkresse. der
Bürgerhäuser, in den Kirchen, im Museum, unter Hegertor und Schlosswall sind die Fortsetzung dieser den
Türmen und im Rathaus verspricht: Sie ist ganz Landschaft.
Stil, ganz Atmosphäre, ganz
Würde und lächelnde Was die Stadt zu bieten hat, bietet sie hier. Auf den Weisheit. Wällen hält sie, was sie
vor den geschnitzten Giebeln Wer die Stadt liebt, liebt sie hier am
innigsten.
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