Der seine Hand ausstreckt
Eine Weihnachtslegende
Es herrschte einmal bittere Not auf Erden... Die Völker hatten
miteinander Krieg geführt, und' alle ihre Angelegenheiten waren unentwirrbar verknäuelt. Das Volk, das den Krieg
begonnen hatte, lag am tiefsten darnieder. In dieser Not schickte Gott um die Weihnachtszeit eine junge Frau,
die in Hoffnung war, zu den Flüchtlingen. Er ließ sie ausweisen von den Angehörigen eines Volkes, das sich zu
den siegreichen zählte. Sie durfte nur so viel an Wäsche und Nahrung mitnehmen, wie sie zu tragen vermochte. Das
war nicht viel; denn sie trug ja außerdem auch das Kind unter ihrem Herzen. Gott hatte beschlossen, ein
Menschenkind, wie auch er einmal eins gewesen war, zum anderen Male das Licht erblicken zu lassen. Damals war
das Land, dessen Bewohner den Krieg verloren hatten, in Zonen aufgeteilt. Bis zur Grenze einer dieser Zonen, die
im Westen des Landes lag, hielt Gott seine Vaterhand über die junge Frau mit ihrer Hoffnung. Dann, als sie jenen
Strich überschritten hatte, der die Zonen voneinander trennt, zog er seine Hand zurück und ließ sie
allein.
Die junge Frau wünschte sehnlichst, dass Gott ihr wenigstens den
Mann mitgegeben hätte. Aber der Mann musste als Gefangener in einem fremden Lande Straßen bauen. So stand sie
denn am Heiligen Abend mutterseelenallein in einem Dorf und wusste nicht, wohin sie ihre Schritte lenken sollte.
Gott hatte alles den Verhältnissen jener Zeit angepasst, es war keineswegs außergewöhnlich, was sich zutragen
sollte. Das statistische Amt sagte "durchaus normal", als es von Gott nach seiner Meinung-gefragt
wurde.
Die junge Frau betete. Sie war nicht geradezu fromm, dass Gott
sie für diese Prüfung etwa auserkoren, hätte, er wollte eben weiter nichts als zuschauen, und deswegen tastete
die junge Frau vergebens nach der Hand, die sie bis hierher geleitet hatte. Da es Abend war und ein Wind
aufstand über den Aeckern und das Kindlein unter ihrem Herzen sich zu regen begann, hielt sie Ausschau nach
einem Dach.
In der ersten Türe, an die sie pochte, erschien die Haushälterin
eines Pfarrers. Seht, ich bin in der Hoffnung", sagte die junge Frau und bat um ein bescheidenes Platzlein in
der Wärme des Pfarrhauses. Aber die Haushälterin schlug ihr mit einem entsetzten „huch!" die Türe vor der Nase
zu.
Als Nächstes kam sie bei einem Beamten, der gerade dabei war, für
seine Kinder den Weihnachtsbaum zu putzen, und der nach Kuchen roch. Er wollte nicht gestört werden, sagte er,
sie sehe doch, dass Weihnachten sei.
Indes wurde es dunkel zwischen den Häusern, und sie konnte kaum
noch die Türschilder lesen. Deshalb klopfte sie unversehens bei einem Reichen an, dessen Fenster festlich
erleuchtet waren. Der Reiche verwies ihr die Störung, brachte sie bis hinter die Gartenpforte zurück und schloss
ab.
Da sie sich vor Leibesnot kaum noch aufrecht halten konnte und
bis ans Herz hinan fror, klingelte sie an der Türe des nächsten Hauses. Dort wohnte ein Schwarzhändler. Der
lachte über ihren Leib und rief: „Nee, nee, sowas! Das ist keinen Pfennig wert", und ließ sie stehen.
Es wurde dunkler und dunkler, Regen sickerte fein auf ihren
Mantel und hinter den Fenstern sah sie Christbäume strahlen und hörte den hellen Gesang der Kinder. Es wurde ihr
schwer ums Herz, Verzweiflung fiel sie an, und am liebsten hätte sie sich hingelegt, um zu sterben. Aber sie
liebte das Kind, das ungeboren war, und weinte sehr.
So kam sie auf einen großen Hof, Hunde verbellten sie, und es
roch nach Braten. Der Gutsherr öffnete, selbst die Türe, wohl in der Meinung, einen Freund zu empfangen. Er ließ
sie warten. Eine Magd kam und bot ihr Kartoffeln an, dann drehte sie ihr wortlos den Rücken zu.
Sie versuchte ihr Glück auf vielen Höfen und in vielen Häusern.
Sie schlich mit ihrem Bündel von einem weihnachtlichen Fenster zum anderen, aber überall wurde sie mit schroffen
Worten abgewiesen; es sei kein Platz in ihrem Hause, sagten sie, und Ärgeres.
Derweil war es schon fast Nacht geworden. Die Glocken läuteten
zur Christmette. Der jungen Frau brach das Herz, sie ließ sich auf einen Stein nieder und ...
Aber in diesem Augenblick schämte sich Gott, dessen menschliche
Geburt in dieser Nacht von den Menschen gefeiert wurde; seiner Geschöpfe. Er hasste sie ingrimmig jetzt, und er
hatte lange zu tun, ehe er einen Menschen gefunden hatte, den er schicken konnte. Es war ein armer Mann, aber er
besaß ein mildtätiges Herz. Der sah die Frau daliegen, stieg vom Rade ab, hob sie empor und führte sie mühsam
heim. Dort legten sie die Frau zu Bett, fragten nicht, und brachten ihr Wärmeflaschen und Tee, und da sie
gewahrten, wie es um sie stand, ging der Mann noch einmal in die Christnacht hinaus und holte die
Wehmutter.
Gott hatte seine Hand wieder ausgestreckt, und er hielt sie auch
über das Menschlein, das damals geboren wurde.
Aus: Nordwestdeutsche Rundschau
Wilhelmshaven 23.12.1947
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